Die Sistah Vegan Konferenz 2015

Die kommende Sistah Vegan Konferenz, 2015.

Quelle: Upcoming – Sistah Vegan Conference 2015, http://sistahvegan.com/upcoming-sistah-vegan-conference-2015/. Übersetzung: Palang LY mit der freundlichen Genehmigung von Dr. A. Breeze Harper.

Sistah Vegan Conference, 2015

Die vegane Praxis von „Black Lives Matter“ [„schwarze Leben zählen“]: Eine Hinterfragung neoliberalen Weißseins im Kontext mit der Bildung antirassistischer Solidarität unter farbigen Veganer_innen und ihren Freund_innen und Unterstützer_innen (vor, nach und über die Geschehnisse in Ferguson hinaus).

Datum: 24-25 April 2015
Ort: Online-Webkofenrenz

Die Konferenz des Sistah Vegan Projekts über die vegane Praxis von „Black Lives Matter“ bringt Akademiker_innen, Autor_innen, Aktivist_innen und Gemeinschaftsorganisator_innen zusammen, um die Schnittstellen zwischen der #blacklivesmattter-Bewegung und dem Veganismus genauer zu betrachten.

Gedacht für Schwarze Veganer_innen, Vegans of Color und ihre weißen Freund_innen und Unterstützer_innen, bietet dieses Online-Event eine Gelegenheit zur gemeinsamen Diskussion, zur Netzwerkbildung für den Aktivismus und für einen gemeinsamen Austausch über aktuelle Wissensstände. Ziel der Konferenz wird auch sein, Vorschläge zu entwickeln und Inspiration zu finden, um eine Dynamik des kollektiven Wandels zu fördern.

In dieser Zeit, in der zahlreiche Menschen auf die Straßen gehen, um im Namen des Banners von #blacklivesmatter zu demonstrieren, werden sich die geplanten Workshops und Redebeiträge für die diesjährige Konferenz folgenden Themen widmen:

  • Wo liegen die Schnittstellen zwischen dem Veganismus und #blacklivesmatter?
  • Wie sieht eine vegane Praxis in Sinne von „black lives matter“ aus?
  • Wie sieht ein Veganismus aus, der „black lives matter“ ignoriert, und was sind die aus ihm ungewollt resultierenden Konsequenzen?
  • Warum spielen Rasse und Weißsein eine Rolle, und was sind deren Funktionsweisen innerhalb des Veganismus und darüber hinaus?
  • Wie sieht Unterstützung innerhalb der #blacklivesmatter-Bewegung unter nichtschwarzen Veganer_innen und Schwarzen Nicht-Veganer_innen aus?

Wollt Ihr teilnehmen?

Es lohnt sich bei der Konferenz teilzunehmen – sie bietet eine gute Gelegenheit um neues zu erfahren, sich gegenseitig auszutauschen und Gemeinschaft zu formieren.

Nehmt als Sprecher_in teil und/oder reicht einen Vortrag ein.

Fördert die Konferenz als Sponsor. Mehr Informationen dazu findet Ihr hier.

Bitte setzt Euch mit dem Sistah Vegan Project in Verbindung wenn ihr teilnehmen möchtet, die Konferenz mitsponsorn möchtet, eine_e Redner_in oder eine_n Abieter_in eines Workshops empfehlen wollt oder wenn Ihr Fragen oder Kommentare habt.

Das Programm, die Registration sowie die Information über Redner_innen und Workshops findet Ihr hier.

Über die Konferenz

#Blacklivesmatter geschieht in und wegen einem Amerika, in dem eine „postrassische“ Rhetorik den Mainstream dominiert und von vielen weißen Amerikaner_innen als Wahrheit akzeptiert wird.

Die Engstirnigkeit in der Perspektive/im Denken/in der Rhetorik erstreckt sich auch auf Veganer_innen (in überwiegend weißen Räumen), indem die Annahme einer anti-oppressiven Haltung allein auf die Rechte nichtmenschlicher Tiere und den Speziesismus beschränkt wird und andere Formen der Unterdrückung (wie der systemische Rassismus, Xenophobie, usw.) nicht weiter berücksichtigt werden.

In solch einem Kontext spielen Schwarze Leben wirklich keine Rolle und der Einsatz zur Bekämpfung von Rassismus und anderen Formen menschlicher Unterdrückung, wird als eine unnötige Ablenkung vom „echten Einsatz“ für die Befreiung nichtmenschlicher Tiere betrachtet.

Viele von uns denken aber, als Schwarze Veganer_Innen und als Nicht-Weiße und Weiße Freund_innen und Unterstützer_innen, dass unsere Politik nicht Single-Issue [keine Einthemenpolitik] sein darf. So sehr wie der Veganismus ein Rahmenwerk der Anti-Oppression bietet, so sehr sollte dies auch in umfassender Weise umgesetzt werden.

Wir können die Verbindungen zwischen der Kinderarbeit auf Kakaoplantagen und der Versklavung von nichtmenschlichen Tieren in Fabrikfarmen nicht ignorieren. „Cruelty-free“  – Ohne Qual und Grausamkeit – kann nicht einfach nur bedeuten, das keine nichtmenschlichen Tiere für die Herstellung eines Produkts gequält worden ist, es muss auch implizieren, dass die Arbeiter_innen, die unsere Produkte/Güter herstellen, gerecht behandelt und entsprechend vergütet werden.

Wir hinterfragen die rassischen und die Klassenprivilegien, die es der veganen Mainstreamrhetorik erlauben, farbige Menschen mit einem geringen Einkommen, die für sich keine pflanzlich-basierende Ernährung annehmen, als faul zu bezeichnen, ohne deren Realitäten eines Mangels an Zugängen zu guten, bezahlbaren Nahrungsmittel zu wahrzunehmen und zu begreifen. Wir hinterfragen mit welcher Leichtigkeit viele weiße Veganer_innen die Kontroverse rund um ‚Thug Kitchen’ abtun; deren Unfähigkeit zu sehen, wie solch eine Minstel-Show bösartige Stereotype über Schwarze Menschen verstärkt und eine Akzeptanz der Gewalt gegen sie begünstigt.

Wir betonen, dass die #blacklivesmatter-Aktivist_innen von Anfang an darum bemüht gewesen sind, aufzuzeigen, dass queere Menschen, Feminist_innen,  Menschen unterschiedlicher sozio-ökonomischer Klassen, Menschen, die anders befähigt sind, usw. nicht nur Teil der Bewegung sind, sondern, dass deren Perspektiven dabei helfen, die Strategien und Ziele der Bewegung zu definieren – statt, gemäß der alten „traditionellen“ Hierarchien, straighte, Cisgenger, körperlich befähigte Männer der Mittelklasse die Führungsrollen zuteil werden zu lassen.

Wir fordern zu einer veganen, kollektiven Praxis auf, die eine klare Position gegen jede Form der Unterdrückung einnimmt, die für den Antirassismus steht, für die Schwarze Befreiung, für die Dekonstruktion weiß-supremazistischer Systeme und Institutionen in einer angeblich postrassischen Ära, und die sich gegen die Systeme richtet, durch die nichtmenschliche Tiere misshandelt und unterdrückt werden.

Das Programm, Informationen zu den Sprecher_innen, den stattfindenden Workshop und zur Registration findet Ihr hier.

A. Breeze Harper: Liebe PETA, Schwarze Leben zählen … wo steht Ihr eigentlich in diesem ganzen Chaos?

Liebe PETA, Schwarze Leben zählen … wo steht Ihr eigentlich in diesem ganzen Chaos?

Dr. A. Breeze Harper, sistahvegan.com

Quelle: Dear PETA, Black Lives Matter … so, where are you in all this mess? Übersetzung: Palang LY (simorgh.de), mit der freundlichen Genehmigung von Dr. A. Breeze Harper.

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Liebe PETA,

Ich stieß auf diesen alten Eintrag von vor 5 Jahren (siehe Ende dieses Blogeintrags). Weshalb konntet Ihr Euer Anliegen nicht anders vermitteln? Ernsthaft, dies ist nun fünf Jahre her und ich frage mich, ob Ihr jemals begreift, dass schwarze Leben zählen, und dass wir nicht einfach da sind, um für Eure weißen, neoliberal-rassistischen Vorstellungen von Tierbefreiung zu werben. Als ich dies zuerst auf Craig’s List geposted sah (siehe unten), wollte ich mich am liebsten übergeben und weinen … ich dachte darüber nach, wie, geschichtlich betrachtet, die Körper Schwarzer Frauen immer wieder ausgebeutet, misshandelt und erniedrigt wurden um das weiß-supremazistische US-amerikanische System aufrechtzuerhalten … und ja, dieser Prozess wird immer noch fortgeführt. So empfand ich diese Anzeige schlichtweg als herzzerbrechend, denn sie zeigt wirklich, dass PETA ‚Diversität’ in einem extremst weiß-supremazistischen, kapitalistischen, heteropatriarchalen Sinne einsetzt; dass Ihr kein Freund und Alliierter seid, sondern ein Mittäter.

In den letzten Monaten, in denen ich mit meiner Arbeit zu schwarzen feministischen veganen Themen befasst war, die die Ziele der Black Lives Matter-Bewegung unterstützen, fragte ich mich, ob Ihr Euch jemals für diese Anzeige unten entschuldigt habt. Und ich frage mich auch, was Eure Rolle in der Black Lives Matter-Bewegung ist. Auch wenn Ihr davon besessen seid, „posthuman“ zu sein, und damit, „dass wir doch alle Tiere sind“, so spielt Rasse nichtsdestotrotz eine Rolle. Schwarze Menschen betrachten sich kollektiv soweit nicht als posthuman, denn hat man uns bis heute nicht einmal das Recht zugestanden, als fühlende und liebende menschliche Wesen betrachtet zu werden. Und ich sage dies nicht um damit den Speziesismus zu unterstützen. Ich sage dies mit einem vollständigen Kanon kritischer Rasseforschung und schwarzer feministischer Forschung auf die ich mich stützen kann. Ich weiß, dass Schwarze Menschen seit dem europäischen Kolonialismus bis in die Gegenwart (und wahrscheinlich auch bis morgen und bis nächste Woche und bis nächstes Jahr) aufgrund des systemischen Rassismus und des neoliberalen Weißseins als Tiere behandelt werden – solange wie postrassische, posthumanistische, „ich sehe keine Farbigkeit“-Machtbesitzende wie Ihr nicht dazu übertretet, die Grundsätze von Black Lives Matter zu praktizieren (wie es viele andere anti-rassistische Bewegungen tun) und sie in Eure veganen Aktionen mit einbezieht. Und wenn ich schreibe „wie Tiere behandelt“, dann beziehe ich mich auf den sozio-historischen Kontext nach 1492, als die europäischen Kolonisator_innen entschieden, dass nichtmenschliche Tiere verfügbar, ausbeutbar und nicht-fühlend sind … und dann schwarze Afrikaner_innen als solch eine Art Tiere kategorisierten.

Nun wo die Black Lives Matter-Bewegung stärker wird, stärker in den gesamten USA, und während ich diese Bewegung durch meine eigenen Aktivitäten als schwarze feministische Veganerin unterstütze, frage ich mich, wo Ihr in diesem ganzen Chaos eigentlich steht? Was habt ihr geleistet um uns zu zeigen, dass Schwarze leben zählen? Was tut ihr hinsichtlich einer Umgestaltung auf Organisationsebene, um eure Angestellten und freiwilligen Helfer_innen dahingehen fortzubilden, dass eine vegane Praxis des Black Lives Matter nicht nur möglich, sondern auch notwendig ist? Das dies euren Singe-Issue-Ansatz in der Tierbefreiung in gar in keiner Weise stört? Ihr bittet Omnivore darum, die systemische Gewalt gegen nichtmenschliche Tiere und das Leid nichtmenschlicher Tiere nicht mehr totzuschweigen. Ich bitte Euch darum, die systemische Gewalt und Ausbeutung von schwarzen Menschen nicht mehr totzuschweigen und nicht mehr zu tolerieren. Es ist möglich, sich auf die Tierbefreiung zu konzentrieren und antirassistisch zu sein, ohne dadurch die Macht einzubüßen zu müssen, Veränderung bewirken zu können. Aber ich denke, dass Ihr das inzwischen auch selbst wisst, und frage mich, ob es Euch vielleicht leichter fällt speziesistische Macht aufzugeben, als die Macht des kollektiven neoliberalen weißen Privilegs, über die der Großteil Eurer Führungsspitze verfügt, und das es selbst auch kaum ablegen kann.

Wie in dieser Anzeige unten werdet ihr schwarze und braune Körper, denen weißsupremazistische Mythen anhängen („die sind ausbeutbar“, „die sind hypersexuell“, usw.), weiterhin einsetzen um Eure ureigenen und ausschließlichen Zielen veganer sozialer (Selbst-)Gerechtigkeit voranzubringen; Ziele, die systemischen Rassismus und neoliberales Weißsein nicht dekonstruieren, sondern bestätigen und aufrechterhalten?

Ich lade Euch dazu ein, an der Sistah Vegan 2015 Conference „The Vegan Praxis of ‚Black Lives Matter’“ teilzunehmen, die online stattfindet. Ihr habt durch eine Teilnahme nichts zu verlieren und könnt dabei nur gewinnen. Und nehmt einige Bücher zur Hand, die Euch dabei helfen, mehr über die Black Lives Matter-Bewegung zu erfahren; wie diese Bewegung ein Kontinuum der schwarzen Befreiung darstellt. Eine Liste befindet sich am Ende dieses anderen Eintrags auf dem Sistah Vegan Blog.

(Breeze sitzt hier in der Erwartung die Grillen zu hören und weitere 5 Jahre veganer sozialer (Selbst-)Gerechtigkeit, wie in der Anzeige unten, zu erleben.)

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(Alle Links: 1. Januar 2015)

Info zur Sistah Vegan Konferenz 2015: Die vegane Praxis von „Black Lives Matter“

Quelle: Sistah Vegan Conference 2015. The Vegan Praxis of “Black Lives Matter”: Challenging NeoliberalWhitenessWhileBuilding Anti-Racist Solidarity Amongst Vegans of Color and Allies (Before, After, and Beyond Ferguson)
Übersetzung: Palang LY (simorgh.de), mit der freundlichen Genehmigung von Dr. A. Breeze Harper.

Die Sistah Vegan Konferenz 2015
Die vegane Praxis von „Black Lives Matter“ [„schwarze Leben zählen“].

Eine Hinterfragung neoliberalen Weißseins im Kontext mit der Bildung antirassistischer Solidarität unter farbigen Veganer_innen und ihren Freund_innen und Unterstützer_innen (vor, nach und über die Geschehnisse in Ferguson hinaus).

Wann: 24-25 April 2015
Wo: Online-Webkonferenz

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Über die Konferenz

Im Jahr 2012 lernte das Sistah Vegan Project die Bewegung und die Webseite von „Black Lives Matter“ kennen. Die Black Lives Matter-Bewegung, deren Wurzeln in einer schwarzen feministischen, queeren Perspektive gründen, entsprach in ihrem Verständnis über Gerechtigkeit und über die Befreiung schwarz-indentifizierter Menschen in der Diaspora in vielen Punkten dem des Sistah Vegan Project. Die Begründer_innen von Black Lives Matter fokussierten nicht alleine auf schwarze Cisgender-Männer als Opfer militarisiert-polizeilicher staatlicher Gewalt, sondern das Leben aller Schwarzer stand hier im Mittelpunkt (wie das queerer, trans, anders befähigter, inhaftierter, usw. Schwarzer). Black Lives Matter ist eine Bewegung und nicht nur ein Moment. Die Begründer_innen dieser Bewegung schreiben:

#BlackLivesMatter wurde im Jahr 2012 ins Leben gerufen, nachdem George Zimmerman, der Mörder von Trayvon Martin, freigesprochen wurde und der verstorbene siebzehnjährige Trayvon noch posthum für seinen eigenen Mord verantwortlich gemacht wurde. Gründend auf den Erfahrungen Schwarzer Menschen in diesem Land, die wir uns aktiv gegen unsere Entmenschlichung wehren, ist #BlackLivesMatter ein Aufruf zum Handeln und eine Reaktion auf den virulenten anti-schwarzen Rassismus, der unsere Gesellschaft durchsetzt. Black Lives Matter ist ein spezifischer Beitrag, der den außergerichtlichen Morden Schwarzer durch die Polizei und Vigilanten nachgeht.

#BlackLivesMatter bewegt sich jenseits des engstirnigen Nationalismus, der in den schwarzen Gemeinschaften vorherrschen kann, und der Schwarze dazu auffordert, nur Schwarze zu lieben, nur schwarz zu leben und nur schwarz zu kaufen, während gleichzeitig heterosexuelle schwarze Cis-Männer die Front dieser Bewegung ausmachen – unsere Schwestern, unsere queere-, tans- und behinderten Freund_innen hingegen aber nur die Rollen im Hintergrund einnehmen dürfen oder aber gar keine keine Rolle spielen. Black Lives Matter bejaht das Leben Schwarzer, die queer und trans sind, behindert sind, offiziell nicht erfasst sind, vorbestraft sind, das Leben schwarzer Frauen und aller Schwarzer entlang des Gender-Spektrums. Diejenigen, die innerhalb der schwarzen Befreiungsbewegungen marginalisiert wurden, werden hier in den Mittelpunkt gerückt. Es geht darum, die schwarze Befreiungsbewegung (neu) zu errichten.

Wenn wir sagen, dass schwarze Leben zählen, dann erweitern wir die Diskussion über die staatlich ausgeübte Gewalt zum Einbeschluss all der Formen, in denen Schwarze in beabsichtigter Weise dem Staat gegenüber machtlos gehalten werden. Wir sprechen darüber, in welcher Art und Weise uns als Schwarze grundsätzliche Menschenrechte vorenthalten und uns unsere Würde geraubt wird, darüber; wie Armut und Genozid eine Form staatlicher Gewalt darstellen; wie die Einsperrung von 2,8 Millionen Schwarzen Menschen in Käfige in diesem Land staatliche Gewalt ist; wie die Belastung schwarzer Frauen durch ständige Angriffe auf unsere Kinder und unsere Familien eine Form staatlicher Gewalt darstellt; wie schwarze queere und Trans-Menschen unter der Belastung durch eine hetero-patriarchale Gesellschaft leiden, die uns systematisch verschrottet, während sie uns gleichzeitig fetischisiert und von uns profitiert, und wie dies ebenso eine Form der Gewalt durch den Staat darstellt; wie 500.000 schwarze Menschen in den USA als illegale Immigranten leben und in die Unsichtbarkeit verbannt werden; wie Schwarze Mädchen als Verhandlungsmasse in Zeiten des Konflikts und des Krieges eingesetzt werden; wie Schwarze Menschen, die eine Behinderung haben oder anders Befähigt sind, unter der Belastung staatlich geförderter darwinistischer Experimente leiden, durch die man versucht, sie in Kategorien der Normalität zu zwängen, die durch ein weißes Überlegenheitsdenken definiert werden – und auch dies ist eine Form staatlicher Gewalt.

#BlackLivesMatter setzt sich für eine Welt ein, in der das Leben Schwarzer nicht mehr systematisch und vorsätzlich eine Zielfläche destruktiver Angriffe darstellt. Wir bekräftigen unseren Beitrag für die Gesellschaft, für die Menschheit, und unseren Widerstand angesichts der tödlichen Unterdrückung mit der wir konfrontiert sind. Wir haben unser ehrenamtliches Engagement und unsere Liebe zu Schwarzen Menschen dahingehend eingesetzt, ein politisches Projekt ins Leben zu rufen – wir haben den Hashtag aus den sozialen Medien herausgeholt und sind auf die Straßen gegangen. Der Ruf nach der Bedeutung Schwarzer Leben ist unser Ruf für die Leben ALLER Schwarzer, die sich für Befreiung eínsetzen.

(Quelle: BlackLivesMatter.com/about)

Die zweijährliche Sistah Vegan Konferenz: „Die vegane Praxis von Black Lives Matter“ 2015 ist Teil dieser Bewegung. Diejenigen, die nicht wissen, was wir mir „Praxis“ meinen und wie wir dieses Konzept gebrauchen, sollten dazu diesen Abschnitt lesen.

In den letzten zehn Jahren habe ich, Dr. A. Breeze Harper, die Begründerin des Sistah Vegan Projekts, mich intensivst mit der kritischen Rasse- und der kritischen Weißseins-Analyse der nordamerikanischen veganen Bewegung befasst. Mir war klar, dass die Mainstream-Rhetorik innerhalb der veganen Bewegung wenig in Sinne dessen tut, anzuerkennen, dass „Schwarze leben zählen“; dies hängt mit einer postrassischen/posthumanen veganen Praxis zusammen. Das Kollektiv weißer neoliberal orientierter Veganer_innen reagiert auf die Konfrontation mit dieser Tatsache, durch vorwiegend nicht-weiße und antirassistische Personen (die vegan sein können oder nicht-vegan), häufig in einer defensiven Art und Weise. Sie reagieren gemeinsam mit verbaler Gewalt, Täter-Opfer-Umkehr und/oder drücken selbstbewusst aus, dass die Einbeziehung eines antirassistischen und dem Weißsein gegenüber kritischen Bewusstsein in ihrer veganen Praxis „zu ablenkend“ von ihren Zielen der Befreiung nichtmenschlicher Tiere wäre. Diese Reaktion selbst spricht Bände von dem weißen Privileg, dass es sich leisten kann, Fragen von Rasse, Rassismus und Rassifizierung als „zu unpassend“ zu empfinden.

Doch so gibt es aber auch diejenigen von uns schwarzen Veganer_innen und Freund_innen, die sich seit langem in verschiedenen Praktiken dessen engagiert haben, den systemischen und institutionell begründeten Rassismus, die Negrophobie, das neolibeale Weißsein (manche nennen es auch den ‚neoliberalen Rassismus’) und den Speziesismus aufzulösen. Wir sind das Kontinuum eines Erbes antirassistischer und anti-weiß-supremazistischer Aktivist_innen und Akademiker_innen, die sich schon immer darum bemüht haben zu zeigen, dass „Schwarze leben zählen“: W.E.B. DuBois, Assata Shakur, Fanny Lou Hammer, Angela Davis (vegan), Morris Dees, Ella Baker, Nina Simone, bell hooks, Ida B. Wells, Octavia Butler (vegan), Audre Lorde, Derrick Bell, Peggy McIntosh, James Baldwin, the Black Panther Party, the Combahee Collective … und die Liste geht weiter.

Vor kurzem hat der geniale rassenbewusste schwarz-identifizierte vegane Chefkoch Bryant Terry darüber geschrieben, wie das Kochbuch Thug Kitchen, das im Herbst 2014 erschienen ist, im Widerspruch zu den Kernthemen steht, wie wir sie in der „Black Lives Matter“-Bewegung finden.  Die Kontroverse rund um Thug Kitchen entwickelte sich zu einem Mikrokosmos dessen, wie Rasse in den USA durch weiß-identifizierte Menschen, so wie den Autor_innen des Buches Thug Kitchen, anders gelebt wird. Die Autor_innen verweigerten sich darin, die Gefahren des Zusammenwirkens ihres eigenen weißen neoliberalen geopolitischen Statuses mit der Aufrechterhaltung von systemischem Rassismus und anti-schwarzer Gewalt wahrzunehmen – sie waren schlichtweg nicht imstande dazu, zu reflektieren, wie ihr Gebrauch des Wortes „Thug“ nicht unschuldig sein konnte, sondern hauptsächlich auf der Rassifiziertheit des Begriffes als „angsteinflößener, schwarzer, urbaner männlicher Gangsta“ aufbaut. Solch eine Verneinung zeigte eindeutig, so die Kritiker des Buches Thug Kitchen (wie Lizbut Ross und der Blogger Michael Twitty, dass die Rassifiziertheit als weiß in einer neoliberalen Zeit, eine überwältigend großen Anzahl weißer Menschen hervorgebracht hat, die tatsächlich nicht verstehen, wie und weshalb der Begriff „Thug“ mit diesem „überzeugenden Mythos“ der weißen Mehrheit gleichgesetzt werden kann: dass alle Schwarzen und Braunen Menschen gefährlich sind und man daher zweifellos vorsorglich mit staatlich sanktionierter Gewalt oder einzelnen Akten präventiver „Selbstverteidigung“ vorgehen darf.

Jedoch wirft man den Blick auf die schwarze vegane Erfahrung, so versteht man bald, wie ihre kollektive Praxis Antirassismus, schwarze Befreiung und die Dekonstruktion weiß-supremazistischer Systeme und Institutionen in einer angeblich post-rassischen Zeit beinhalten muss. Dj Cavem zum Beispiel, ein junger schwarzer veganer Hip-Hop-Aktivist aus Denver Colorado, engagiert sich dafür, Jugendliche mit der veganen Praxis vertraut zu machen. Er zeigt uns, dass „schwarze Leben zählen,“ indem er gegen Nahrungsmittelwüsten, den Gefängnis-Industrie-Komplex, Polizeigewalt und Ungleichheiten im Gesundheitswesen kämpft – Konsequenzen des anti-schwarzen Erbes im weiß-supremazistischen kapitalistisch-basierenden US-amerikanischen System.

Schauen wir in Richtung der Ostküste der USA, dort finden wir die anfrozentrisch ausgerichtete vegane Aktivistin Queen Afua, deren wegweisendes Buch Sacred Woman die vegane Ernährungspraxis mit der Bewusstsein verband, dass rassifiziert-sexualisierte Gewalt gegen schwarze Frauen und Mädchen nicht verschwiegen und ignoriert werden darf.

Nicht-schwarz-identifizierte Freund_innen und Unterstützer_innen, so wie Dr. Harlan Weaver, bringen eine antirassistische vegane Praxis und die der Tierbefreiung in ihrer Arbeit zusammen. Dr. Weaver beobachtet wie cisgender, rassische und nichtbehinderte Identitäten die Beziehung zu Pitbulls in den USA in direkter Weise beeinflussen. Die rassistischen Reaktionen seitens der Mainstream-Tierrechts- und veganen Bewegung auf den Fall Michael Vicks und seine Beteiligung an Pittbull-Hundekämpfen zeigen, dass es nicht nur Michael Vick war, der hier vor Gericht stand, sondern insgesamt die schwarze urbane Hip-Hop-Kultur und die „wilden“ Männer, die ihr angeblich entsprangen. Die Arbeit Weavers kann angeführt werden um verstehen zu lernen, wie solche Reaktionen des Mainstreams weißer Tierrechtler_innen und Veganer_innen erkennbar machen, dass die Leben Schwarzen in derer veganen Praxis nicht zählen.

Eine der kontroversesten Gruppen die für den Veganismus werben sind PETA. Sie setzen sich für die Befreiung nichtmenschlicher Tiere ein, während sie zugleich ihre eigene unterstützende Rolle, sowohl in der Aufrechterhaltung eines neoliberalen Rassismusses, als auch dabei, durch transphobe Texte und Bilder den Mainstream dahingehend zu beeinflussen, aus „ekel“ Vegetarier_innen oder Veganer_innen zu werden, ignorieren. Ob beabsichtigt oder nicht, solch eine vegane Praxis wie die, die PETAs Kampagnenstrategien treibt, betrifft die Leben von Trangender-Menschen in negativer Weise – insbesondere das Leben von schwarzen Transgenderfrauen wie CeCe McDonald. Der weiße vegane Freund und Unterstützer Kris Gebhard hat seine Solidarität mit der Black Lives Matter-Bewegung gezeigt, indem er sich für die Befreiung CeCe McDonalds engagiert.

Lauren Ornelas, die Leiterin des Food Empowerment Projects ist latina-identifizierte anti-rassistische Veganerin. Ornelas hat einen enormen Beitrag darin geleistet, aufzudecken, welche Unternehmen vegane Kakaoprodukte herstellen und vertreiben, deren Produktion die Ausbeutung schwarzer afrikanischer Kinder beinhaltet. Diese Kinder werden versklavt um Kakao zu ernten – und das auch für tierqualfreie vegane Schokoladenriegel . Ihre kontinuierliche Arbeit zur Sichtbarmachung dieser grausamen Praxis ‚moderner Sklaverei’ stellt ein beeindruckendes Beispiel trans-kontinentalen Einsatzes dar, mit dem Ziel Veganer_innen im globalen Westen und Norden bewusst zu machen, wie/ob ein „qualfreier“ Konsum über die Frage: „Wurde einem Nichtmenschen Grausamkeit angetan?“ hinausgehend praktiziert wird. Das Food Empowerment Project klärt auf und bringt Konsumenten dazu, sich mit der Realität auseinanderzusetzen, dass der meiste Kakao der gehandelt wird mit folgender Logik einhergeht: 1. schwarze afrikanische Leben zählen nichts und dürfen nicht zählen, und 2.) wir haben es hier mit einem größeren Problem rassifizierten Nahrungsmittelhandels zu tun, bei dem diejenigen, die Nahrungsmittel unter grausamsten Bedinungen ernten, zumeist braune und schwarze Menschen dieser Welt sind.

In Fortsetzung mit der pro-veganen Arbeit im Sinne des Gedanken von Black Lives Matter, wie sie geleistet wird von Menschen wie Lizbut Ross, Bryant Terry, DJ Cavem, Harlan Weaver, Lauren Ornelas und Queen Afua, werden sich die Workshops und Redebeiträge der kommenden Konferenz mit folgenden Fragen befassen (und versuchen sie zu beantworten oder immerhin in eine Richtung besserer Antworten zu verweisen).

  1. Wie sieht eine vegane Praxis im Sinne von Black Lives Matter aus?
  2. Wie sieht der Veganismus aus, der die Idee von Black Lives Matter ignoriert und was sind die (un)gewollten Konsequenzen, die daraus resultieren?
  3. Weshalb spielen Rasse und Weißsein eine Rolle, und was sind ihre Funktionsweisen?
  4. Wie sieht die gegenseitige Unterstützung innerhalb der Black Lives Matter-Bewegung unter nicht-schwarzen und schwarzen Veganer_innen aus?

Das Programm, die Liste der Sprecher_innen, der angebotenen Workshops und die Informationen zur Registration sind hier abrufbar.

(Alle Links: 27. Dez. 2014)

Casey Taft: Tierverteidigung und wissenschaftliche Methodik: Die Studie des Humane Research Council

Tierverteidigung und wissenschaftliche Methodik: Die Studie des Humane Research Council

Casey Taft, Vegan Publishers

Originaltitel: Animal Advocacy and The Scientific Method: The Humane Research Council Study. Übersetzung: Gita Yegane Arani mit der freundlichen Genehmigung von Prof. Casey Taft.

Als jemand, der sein Berufsleben lang der wissenschaftlichen Methode gefolgt ist und sie stets vertreten hat, und als Autor und Redakteur, der eine Verantwortung dafür trägt, über die Annahme oder Ablehnung von Publikationen zu entscheiden, hat mich der Mangel an Einhaltung wissenschaftlicher Methoden in der Tierschutz- und Tierrechtsarbeit erstaunt. Und dies geschieht in einer Generation der Strategieentwicklung in der Tierverteidigung, der Evaluierung und der Interpretation solcher Strategien. Und zwar möchte ich hier eine neuere, breit veröffentlichte Studie des Humane Research Council über gegenwärtige und ehemalige Vegetarier und Veganer [1] besprechen und in welcher Weise diese Studie anerkannte wissenschaftliche Methoden außer Acht lässt.

In letzter Zeit wurden mehrere solcher Studien vorgestellt und ich habe beobachtet, dass Tierverteidiger die Andeutung machten, sie würden in Reaktion darauf ihre Herangehensweise verändern wollen. Ich warne davor, sich zur Abgleichung mit der Tierrechts- und Tierschutzarbeit zu sehr auf diese Studien zu verlassen, da sie sich häufig nicht an die wesentlichen Grundsätze wissenschaftlicher Methodik halten, und somit die Schlussfolgerungen, die wir aus ihnen ziehen können, begrenzter Natur sind.

Bevor ich nun zu den Details der HRC-Studie komme, möchte ich einige der Grundlagen wissenschaftlicher Methodik beschreiben, die in der Forschung zur Tierschutz-/Tierrechtsarbeit häufig vernachlässigt werden:

  1. Die Aufstellung eines Sets zu prüfender Hypothesen, die auf einer spezifischen Theorie oder einem konzeptuellen Modell basieren. Wenn bei einer Studie keinerlei zu erwartenden Ergebnisse vorliegen, die aus der Datenanalyse resultieren würden, dann können die Hypothesen nicht geprüft werden und die Studie muss als explorativ eingestuft werden.
  2. Die Konstrukte, die untersucht werden sollen, müssen unter Anwendung gemeinhin anerkannter Definitionen festlegbar und bemessbar sein.
  3. Die Schlussfolgerungen müssen durch die Datenanalyse gestützt werden, und sie dürfen sich nicht jenseits der Befundlage bewegen.
  4. Die Untersuchung muss im Peer-Review-Verfahren geprüft werden, so dass andere Experten in dem Gebiet ihre Meinung äußern können, um sicherzustellen, dass die Studie wissenschaftlich einwandfrei und unbefangen ist.

Für diejenigen, die nicht mit der Studie des Humane Research Council vertraut sind, dies war eine epidemiologische Befragung von mehr als 11.000 Personen, deren Ziel gewesen ist, die Faktoren besser zu verstehen, die diese Menschen zu einer langfristigen Annahme einer „veganen“ oder vegetarischen Ernährungsweise führten. Zum Zwecke der statistischen Analyse wurden die „Veganer“ (definiert als diejenigen, die eine pflanzlich-basierende Ernährungsweise für sich annahmen) und die Vegetarier als eine gemeinsame Gruppe behandelt. Ein zentrales Ergebnis der Studie war, dass es mehr als fünfmal so viel ehemalige Vegetarier/Veganer gab, wie Menschen die gegenwärtig vegetarisch/vegan lebten, was darauf hindeutete, dass die Wahrung einer solchen Ernährungsweise nur von einer Minderheit der Gruppe betrieben wird und generell problematisch ist.

Gründend auf einer Reihe von Analysen, in denen gegenwärtige mit ehemalige Veganer/Vegetarier verglichen werden, ziehen die Autoren mehrere Schlüsse, einschließlich der Schlussfolgerung, dass wir eine größere Betonung auf die Reduzierung der Verzehrs von Tierprodukten (relativ zur vollständigen Aufgabe) legen sollten, und dass wir uns mehr auf das „Wie“ des Vegetarismus/Veganismus (wahrscheinlich relativ zum „Warum“ des Vegetarismus/Veganismus) konzentrieren sollten.

Schauen wir uns also an, wie die Grundlagen wissenschaftlicher Methodik, die ich oben aufgelistet habe, auf diese Studie anzuwenden sind.

Es bedarf der Aufstellung eines Sets zu prüfender Hypothesen, die auf einer Theorie oder einem konzeptuellen Modell basieren. Die Autoren haben keine spezifischen Hypothesen vorgelegt und sie haben ihre Erwartungen vor der Durchführung der Analyse nicht geschildert. Wir wissen somit nicht wovon sie ausgegangen sind, als sie die Studie durchführten; die Interpretation der Resultate muss daher mit einer gewissen Vorsicht vorgenommen werden.

Die Konstrukte, die untersucht werden sollen, müssen unter Anwendung gemeinhin anerkannter Definitionen festlegbar und bemessbar sein. Der „Veganismus“ wurde in der Studie nicht im Sinne der anerkannten ursprünglichen Definition der Vegan Society definiert: „Der Veganismus ist eine Lebensweise, die sich darum bemüht, alle Formen der Ausbeutung und der Gewalt gegenüber Tieren, für Nahrungszwecke, Bekleidung oder jegliche anderen Zwecke, so weit wie möglich und praktizierbar, auszuschließen.“ Die Autoren haben den Veganismus als eine Ernährungsweise definiert, was er aber nicht ausschließlich ist. Zudem wurden Vegetarier und Veganer als eine gemeinsame Gruppe behandelt, ungeachtet der Tatsache, dass diese beiden Gruppen sich im Bezug auf ihre Motivationen zur Ablehnung des Gebrauchs von Tierprodukten stark unterscheiden.

Wenn die richtigen Definitionen von „Veganer“ und „Vegetarier“ in der vergleichenden Analyse des Beibehalts einer fleischlosen Ernährungsweise eingesetzt worden wären, dann, so bin ich mir sicher, hätten wir bei den Veganern extrem hohe Raten in der Kontinuität ihrer fleischlosen Ernährungen relativ zu den Vegetariern. Die Schlussfolgerung der Analyse würde wahrscheinlich eher lauten, dass wir direkt für den Veganismus werben sollten, statt für stufenweise Schritte auf dieses Ziel hin.

Die Schlussfolgerungen müssen durch die Datenanalyse gestützt werden.   Interessanterweise scheinen die Schlussfolgerungen der Autoren – dass wir uns mehr auf die Reduktion des Fleischverzehrs konzentrieren sollten (relativ zur Beendigung des Fleischverzehrs) und auf das „Wie“ bei der Durchführung des Wechsels zum fleischlosen Leben (relativ zu dem „Warum“) – konträr zu dem zu stehen, was uns die Resultate tatsächlich zeigen. Die wichtigsten Variablen, die bestimmten, ob jemand vegan/vegetarisch blieb, bestanden darin, ob die Ernährung aus Gründen der Tierrechte, des Umweltschutzes oder der Fragen sozialer Gerechtigkeit beibehalten wurde. Genauer gesagt lag die Wahrscheinlichkeit bei denjenigen weit höher ihre fleischlose Ernährung beizubehalten, die angaben, dass sie sich aus „Tierschutzgründen“, „dem Gefühl des Ekels vor Fleisch/Tierprodukten“, „der Sorge um die Umwelt“ und wegen „Fragen sozialer Gerechtigkeit und des Welthungers“ vegan/vegetarisch ernährten. Eine separate Analyse zeigte, dass die Hauptschwierigkeit bei der Beibehaltung einer fleischlosen Ernährung bei den Teilnehmern der Studie darin lag, dass sie den Vegetarismus/Veganismus nicht als Teil ihrer Identität empfanden.

Durch all diese Analysepunkte hindurch waren die Variablen, die sich auf die Empathie für andere beziehen, stärker mit der Beibehaltung einer fleischlosen Ernährung verknüpft, als die selbstbezogenen Gründe, wie Gesundheit, Kosten, Geschmack, sozialer Einfluss, religiöse/spirituelle Überzeugungen, Mode oder Lust/Genuss. Wenn wir es wegen der anderen Tiere tun, dann ist die Chance geringer, dass wir den Schritt zurück zum Konsum tierischer Produkte gehen. In anderen Worten zeigt diese Studie, dass wir für den Veganismus gemäß seiner ursprünglichen Definition der Minimierung des Schadens anderer werben sollten. Und wir sollten Menschen dahingehend ermutigen, sich stolz mit dem Vegansein identifizieren und Tierprodukte ohne Hemmungen aus ihrem Leben verbannen zu können. Kurzum die Resultate zeigen, dass wir einen größeren Fokus auf das „Warum“ des Veganismus (die Beendigung der Grausamkeit gegenüber Tieren) richten sollten, dass wir die Ermutigung anderer, zur Beendigung aller Verletzungen der anderen Tiere, stärker betonen sollten (also nicht bloß die Reduzierung des Fleischkonsums), und dass wir daraufhin arbeiten sollten, die Identifizierung mit dem Veganismus zu verstärken (statt sie zu schwächen).

Die Untersuchung muss im Peer-Review-Verfahren geprüft werden. Wenn die HRC-Studie einer zweiten wissenschaftlichen Prüfung unterzogen worden wäre, dann wären immerhin einige der Problempunkte, die ich oben erwähnte, thematisiert worden, und die Autoren hätte sich zu diesen Bedenkenspunkten in einem überarbeiteten Manuskript (bei Vereinbarung einer weiteren Besprechung) äußern müssen, damit die Studie veröffentlicht werden könnte. Das Peer-Review-Verfahren gibt einer Studie Legitimität, und zeigt, dass man über die Schwelle wissenschaftlichen Verdienstes hinaustreten kann. Das Verfahren hilft, den Einfluss, den eine Voreingenommenheit des Forschers auf die Interpretation der Resultate haben kann, zu beseitigen, und es bringt die Wissenschaft insgesamt voran. Ich sehe ein, dass für eine Studie dieser Art begrenzte Optionen der Publikation in wissenschaftlichen Journalen vorliegen, wir müssen aber einen Weg finden, solche Arbeiten rigoroseren wissenschaftlichen Prüfungen zu unterziehen, damit sie wirklich bedeutsam sein können.

Es ist eindeutig, dass die Daten, die hier gesammelt wurden, potenziell wertvoll sind, und sie können bei der Beantwortung wichtiger Fragen helfen. Der Wert dieser Bemühungen kann aber enorm gesteigert werden, wenn die Fragen und Interpretationen einer gründlichen Überprüfung unterzogen werden und das Feedback anderer aus der wissenschaftlichen und der veganen Gemeinschaft erhalten. Zudem ist der wichtig für uns, die wir uns in der Verteidigung der Tiere einsetzten, Forschung mit dem grundlegenden Verständnis zu aufzunehmen, dass sie immer ein menschlicher Prozess ist und wir uns ihrer Begrenztheit bewusst sein müssen.

Zum Autor:

Zusätzlich zu seiner Arbeit als Leiter der Vegan Publishers ist Casey Taft Professor für Psychiatrie an der Boston University School of Medicine. Er ist ein international anerkannter Forscher in den Bereichen Trauma und Familie und hat zahlreiche renommierte Preise für seine Arbeit von der International Society for Traumatic Stress Studies, dem Institute on Violence, Abuse and Trauma und den Centers for Disease Control and Prevention erhalten. Er hat über 100 Journalartikel, Buchkapitel und wissenschaftliche Berichte verfasst, ist Mitherausgeber des Jorunals „Psychological Trauma: Theory, Research, Practice, and Policy“ und Vorstandsmitglied der „War Writers’ Campaign.“ Casey arbeitete auch als Vorsitzender einer Arbeitsgruppe der American Psychological Association für Traumaverarbeitung im Militär und ist als Berater zur globalen Gewaltprävention bei den Vereinten Nationen tätig gewesen. Er sieht die Prävention der Gewalt gegen Tiere als eine logische Erweiterung seiner Arbeit.

Alle Links: 19.12.2014

[1] Siehe auch folgenden Link: https://web.archive.org/web/20150314232646/http://spot.humaneresearch.org/content/how-many-former-vegetarians-are-there ; die Angaben werden immer noch von der Organisation Faunalytics weiter verwendet.

Kim Socha: Die Venen öffnen

kts8

Jahrgang 1, Nr. 4, Art. 1, ISSN 2363-6513, Dezember 2014

Die Venen öffnen

Kim Socha

Englischsprachige Originalfassung
Opening Veins. Aus: Defiant Daughters: 21 Women on Art, Activism, Animals, and the Sexual Politics of Meat. Herausgegeben von Kara Davis und Wendy Lee, mit einem Vorwort von Carol Adams. Erschienen bei Lantern Books, 2014. http://www.lanternbooks.com/books/BookDetail.aspx?productID=357873.

Schlagworte: Tierrechte, Feminismus, Veganismus, Intersektionalität

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TIERAUTONOMIE,  Jg. 1 (2014), Heft 4.

Die Venen öffnen

Ist es Kultur oder Biologie? Dieses stark vereinfachende Binär ungerliegt oft den Gesprächen, die ich mit den Menschen draußen, während meiner Tierrechtsarbeit führe. Sind wir biologisch geschaffen um Tiere zu essen oder ist es eher eine kulturell bedingte Motivation? Meine ehrliche Antwort darauf ist: es ist mir egal. Wir leben in einer industrialisierten Kultur, in der es eine Menge an Alternativen zum Verzehr und Gebrauch von tierischen Produkten gibt. Wir sollten diese Dinge also meiden. Im Kontext mit dem Aktivismus ist es besonders frustrierend mit der esoterischen Kritik dieser uns so plagenden Binäre konfrontiert zu werden – Mensch/Tier (als wären Menschen keine Tiere), Mann/Frau (als wäre das Gender kein soziales Konstrukt), Gut und Böse (als würden all unsere Handlungen ganz einfach in die eine oder andere Kategorie hineinpassen – Ambiguität sei verdammt!).

Es war Carol Adams, die mir mit ihrem Buch The Sexual Politics of Meat und mit ihren anderen Publikationen geholfen hat, die Binäre und Annahmen, die der rationalistischen philosophischen Geschichte der westlichen Kultur entsprungen sind, zu hinterfragen. Meine sich noch entwickelnde Forschung baut auf dem Fundament ihrer Gedanken auf, und die Botschaften ihrer Arbeit begleiten mich nunmehr seit den letzten 12 Jahren, seitdem ich das erste Mal ihr Buch las. Meine Beziehung zu Adams Arbeit ist jedoch nicht einheitlicher Natur. So las ich beispielsweise ihre starken Aussagen über die miteinander verbundenen Unterdrückungsformen und über weibliche Selbstbefähigung, wurde aber erst neun Jahre später vegan. Tatsächlich trat ich sogar eine selbstzerstörerische Lebensreise an, auf der ich mich immer noch befinde, obwohl ich inzwischen eine vegane Tierrechtlerin und Akademikerin bin und mich auch in anderen Bereichen für soziale Gerechtigkeit einsetze. Liegt das an der Kultur oder an der Biologie? Habe ich einen Hang zur Selbstzerstörung aufgrund einer frauenhassenden Gegenstandskultur, oder die es die Biologie – sind es die falschen Signale in meinem Gehirn, die mich immer wieder zur eigenen Infragestellung veranlassen, und dazu, mich selbst zum Schweigen zu bringen? Aber warum hat sich meine Selbstzerstörung am stärksten über die Anorexie, die Drogenabhängigkeit und die Abhängigkeit von unterdrückerischen Männern manifestiert? Ich frage mich weshalb ich eine Stimme habe, wenn ich die nichtmenschlichen Tiere und die menschlichen Tiere, die ich liebe, verteidige, doch wenn es um mich selbst geht dann bleibe ich zumeist still. Und warum habe ich, wenn ich nicht still bin, das Gefühl ich hätte etwas falsch gemacht?

Bei einer Konferenz vor kurzem las ich aus meinem Buch Frauen, Zerstörung und die Avant-Garde: ein Paradigma für die Tierbefreiung vor – ein Buch, das sich fest und überzeugt auf Adams Theorien begründet. Ich war wütend (in einer guten Weise, gegen die Ungerechtigkeit) und fühlte mich stark, und die Zuhörerinnen reagierten mit Begeisterung und Applaus. Ich fühlte mich wie eine motivierende Kraft, weil ich in diesem Buch die Wahrheit sagte. Später am Abend aber, als ich versuchte einzuschlafen, fühlte ich mich aber als hätte ich gelogen, denn eigentlich bin ich in so vielen Punkten immer noch so schwach, was auch einen Teil meiner Wahrheit ausmacht. Und das ist die Geschichte, die ich hier erzählen will. Eine Geschichte, die ich nicht hinter meiner Gelehrsamkeit verstecken will. Doch bevor ich meine Geschichte von Zerstörung und Erneuerung erzähle, muss ich doch diese Zusatzerklärung abgeben: Mit geht es inzwischen viel besser und ich bin weiterhin auf dem Weg der Besserung.

Der Schriftsteller Paul Gallico machte diese oft zitierte Beobachtung: „Nur wenn Du deine Venen ein wenig öffnest und das Blut auf das Papier träufeln lässt, kannst Du eine Beziehung zu deinem Leser herstellen.“ Welch Glück ich habe, dass ich das nur im metaphorischen Sinne tun muss. Selbst jetzt wo ich diese Worte schreibe, denke ich an all die nichtmenschlichen Tiere, denen die Venen tatsächlich zu Milliarden jährlich geöffnet werden, um den Wunsch der Menschen nach ihrem Fleisch zu stillen. Und das ist, worum es in dieser Geschichte geht: es ist die Geschichte einer selbstzerstörerischen Frau, die ihre Zerstörung im metaphorischen Sinne als vergleichbar zu der Zerstörung nichtmenschlicher Tiere erlebt, eine Frau die jedoch privilegiert genug ist um Wege aus dieser Verheerung heraus zu finden, eine Frau, die sich schuldig fühlt dafür, dass sie sagt, sie leidet und sie hat gelitten, während andere doch so viel mehr leiden. Aber diese Geschichte nicht zu erzählen, hieße wieder in die Falle der Selbstzensur zu treten. Ich will also versuchen „meine Venen zu öffnen.“

Auch möchte ich ein Bild von mir selbst zeichnen, einer achtundreißigjährigen Frau, die immer noch die Antworten auf die Frage: „Wer bin ich?“ sucht, während sie gleichzeitig versucht mit der Tatsache klarzukommen, dass sie es vielleicht niemals herausfinden wird. Ich schaue auf den Buchumschlag von The Sexual Politics of Meat, auf diese nackte Frau, die ihren Kopf wendet mit dem roten Cowgirl-Hut, dem rabenschwarzen Haar, dem verführerischen Augenausdruck und den purpurnen Lippen. Sie ist beides von dem was ich immer sein wollte – eine schöne, begehrte Frau – und das, was ich an mir verachte zu sein – ein Gegenstand, der nur wegen der Teile, aus denen er sich zusammensetzt, gewünscht wird, dessen man sich dann aber auch wieder entledigen kann. Sie erinnert mich als Lynda Carters Cartoon-Charakter Wonder Woman, den ich als Kind so liebte – unglaublich schön und stark, umherlaufend in so wenig Kleidungsstücken, wie es in den 1970ern auf den öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern gerade noch erlaubt war. Die Frau auf dem Cover verfügt jedoch über keinerlei Macht. Sie ist ein Produkt, das in seine Stücke untergliedert wird, das gedemütigt und bloßgestellt wird. Sie ist ein öffentlicher Besitz. Die westliche Kultur hat ihr dies durch ihre misogynistischen Medien angetan, sie hat es mir angetan und sie tut es weiterhin Mädchen und Frauen an, zumindest im übertragenen Sinne – den Nichtmenschen tut sie es faktisch an.

Dann blättere ich in dem Buch zu dem Bild von „Ursula Hamdress“, dem Pinup-Schwein, das erscheint als freue es sich seiner selbst an seinem eigenen milden Lächeln und einem Drink neben ihm. Ursulas Bild spiegelt die Botschaft des Umschlagsbildes wider. Als übergewichtiger Teenager nannten die Menschen, nach deren Anerkennung ich mich sehnte, mich „Schwein“, „Kuh“ und „Elch“. Zu dieser Zeit dachte ich, dass diese Beleidigungen die schlimmstmöglichen sein müssten. Animalisiert zu werden, hieß abgelehnt zu werden. Als Frau eine „Sau“ zu sein, heißt verdammt zu werden, reduziert auf den Status eines unerwünschten Produkts, und obgleich „Fox“ oder „Biest“ vordergründig als Komplimente zu verstehen sein sollen, handelt es sich doch ebenso um eine Reduzierung von Frauen auf objektifizierte Wesen. Rückblickend wünschte ich, ich hätte zu denjenigen, die mich auf dieses Art und Weise verdammt haben, gesagt: „Dank Dir! Denn Schweine sind intelligente, sensible und schöne Wesen.“ Doch ich war damals, im Teenageralter, noch so weit entfernt von solchen Gedanken, wie denen, den ich später in Adams Arbeiten begegnete, so dass ich kaum so reagieren konnte. Und statt meinen Peinigern schlau zu kontern, entwickelte ich Anorexie.

Bild 1: Die hungernde Frau

Ich habe mich etwa sechs Jahre lang hungern lassen, von meinem neunzehnten bis zu meinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr, was mir zwei Krankenhausaufenthalte einbrachte. Als ich im Krankenhaus war, traf ich andere Frauen wie mich selbst: schlau, witzig, fürsorglich und selbsthassend genug um sich im Land der Fülle aushungern zu lassen. Wir waren privilegiert genug um Nahrung abzulehnen, während andere Menschen auf dieser Welt aufgrund des Mangels an Nahrung hungern müssen. Und, wir hatten das Glück Eltern oder andere Menschen zu haben, die über ausreichend finanzielle Mittel verfügten um für unsere Krankenhausaufenthalte aufzukommen. Die meisten von uns, die wir uns in Behandlung befanden, waren weiß, aber es waren auch einige farbige Frauen dort. Soweit wie ich es erlebte, waren die meisten Patientinnen, die sich aushungern ließen und bulimisch waren, zumeist weiße Frauen, während diejenigen, die zu viel aßen, hauptsächlich farbige Frauen waren. Warum auch immer, aber diese Unterschiedlichkeit existierte. Eine Tatsache ist, dass wir alle Nahrung dazu einsetzten, um uns selbst zu „behandeln“, wegen dem einfachen wenn auch komplexen Grund, dass wir uns allesamt selbst nicht mochten.

Während meines Krankenhausaufenthaltes schloss ich kurz andauernde Freundschaften. Ich glaube diese Verbindungen unterlagen solch einem Zeitlimit, weil viele von uns letztendlich doch miteinander konkurrierten. Bei einer Größe von 1.68 m wog ich immerhin 36 kg, dort lebten aber Frauen, die größer und noch dünner waren als ich. Ich konnte sie kaum anschauen, weil sie so dünn waren. Und während ihr brüchiges Haar und ihre hervorstehenden Knochen mich abstießen, so war ich doch zugleich auch neidisch auf sie. Sie kriegten die Anorexie besser hin als ich.

Ich versuchte in meiner Selbstvorenthaltung von Nahrung perfekt zu sein, so dass man mich nicht mehr länger „Kuh“ oder „Schwein“ nennen würde, fing an Gewicht zu verlieren und hörte dann einfach nicht mehr damit auf. Dabei versuchte ich aber nicht in bewusster Weise Models nachzuahmen, die sich selbst aushungern lassen um „vermarktbar“ zu sein, aber ich gab definitv der kulturellen Annahme nach, dass dünn zu sein bedeutet Wert zu haben. Auch war das meine Art den Männern, die mich zuvor wegen meines Gewichts ärgerten, zu sagen (und in meinem Fall waren es immer Männer): „Euch werd ichs zeigen!“

Ein merkwürdiger „Vorteil“ meiner Anorexie war, dass ich auch aufhörte zu fühlen. Natürlich zeigte ich Gefühle. Ich weinte fortwährend und reagierte, als ich meinen Abschluss am College machte, immer hyperaktiv auf den geringsten Stress, und, ich schaffte es mit so wenig Nahrung wie möglich durch bis zu meinem Masterabschluss. (Jahre später, als ich mit meiner Dissertation begann im Jahr 2006 und ich die Anorexie, die mich einst plagte, augenscheinlich schon weit hinter mir gelassen hatte, da sprach im meinem Hinterkopf doch immer noch diese Stimme zu mir, die sagte, dass der Grund weshalb ich als Studentin erfolgreich war, doch allein in meiner Anorexie gelegen habe. Wie könnte ich meinen Doktortitel erlangen ohne mich selbst hungern zu lassen? Wie sich später herausstellte hatte das eine aber wirklich nichts mit dem anderen zu tun.) Mein absichtliches Hungern setzte meine weiblichen Körperfunktionen außer Kraft, ich hatte keine Periode mehr und entwickelte Osteoporose in einem Alter von dreiundzwanzig Jahren. Ich hatte auch keinerlei sexuellen Gefühle mehr in jegliche Richtung, was ich als eine Art Auszeichnung empfand, als einen Beweis dafür, dass anorexisch zu sein irgendwie richtig sein müsste, weil alles andere, das ich in meinem Leben tat, falsch oder nicht gut genug erschien. Kalorien zählen, exzessives trainieren und zu versuchen eine Top-Studentin zu sein, war alles was für mich zählte; das waren die täglichen Übungen einer Frau, die keine Frau sein wollte, weil sie nicht dachte, dass sie in der „echten Welt“ sichtbar sein könnte. Sie würde keine Freunde haben, sie würde unfähig sein jemanden außerhalb der Familie zu lieben oder von jemandem außerhalb der Familie geliebt zu werden, und sie würde nicht dazu imstand sein, dauerhaft einen Job zu bewältigen und für sich selbst finanziell sorgen zu können. Sie würde zusammenbrechen, ab dem Punk, ab dem sie für sich selbst sorgen müsste. Die Frau, die ich mir vorstellte zu werden, wäre außerstande dazu, irgendetwas selbst zu schaffen.

Ich bin mir nicht sicher wie die offiziellen Statistiken lauten, aber viele der anorexischen Frauen, denen ich während meiner Behandlung begegnete, identifizierten sich auch als Vegetarierinnen. Mitte und Ende der 1990er wusste ich über den Veganismus zwar Bescheid, er war zu der Zeit aber bei weitem noch nicht so populär wie heute, und so gab es damals auch nicht so viele Frauen, die über sich gesagt hätten, dass sie vegan seien. Im Zuge ihrer Behandlung begannen allerdings viele dieser vegetarischen Frauen wieder Fleisch zu essen. Ich tat das nicht. Ich konnte stolz von mir behaupten, dass ich ethisch bleiben würde, selbst wenn die Leute im Krankenhaus mich unter Druck setzten, dass doch Fleisch essen solle. Rückblickend mache ich ihnen aber keinen Vorwurf daraus, dass sie dachten der Vegetarismus wäre nur ein Weg gewesen um fetthaltige Nahrung und die Nahrungsausfnahme überhaupt zu reduzieren. Mir bedeutete er jedoch mehr als das, selbst damals. Es war für mich eine Frage der Ethik.

Ethik, ein System richtigen Handelns. Ich hungerte mich bis zur Krankheit und dachte ich handle ethisch. Tatsächlich versuchte ich eine Kraft für diejenigen zu sein, denen in unserer Kultur Gewalt angetan wird – den nichtmenschlichen Tieren – während ich mir selbst jegliche Kraft entzog, die mir hätte helfen können (und damit schließlich auch den Tieren) um das Leid zu beenden. Ja ich hatte The Sexual Politics of Meat gelesen, aber ich konnte die Frau-Tier-Bezeihung im Bezug auf mich selbst nicht herstellen. Ich konnte nicht sehen, dass auch ich der Fürsorge bedurfte.

Erst jetzt kann ich diesen Abschnitt meines Lebens mit den Erfahrungen anderer weiblicher Wesen, die für Profitzwecke ausgehungert werden, vergleichen – keine Supermodels, sondern Hennen, denen man in einem abartigen Versuch die Natur zu mimen, das Futter für fünf bis vierzehn Tage lang verweigert, um sie dadurch zu zwingen, mehr Eier zu produzieren, für mehr Gewinne. Selbst in meinen schlimmsten Zeiten habe ich nie solange gehungert. Ich aß jeden Tag, nur einfach nicht genug, und ich trainierte täglich zwei Stunden und verbrannte so die wenigen Nährstoffe, die ich zu mir genommen hatte.

In der Zeit als ich mich, nach vielen Unterbrechungen und Neuanfängen, von meiner Anorexie erholt hatte, entwickelte ich eine emotionale Kälte gegenüber Frauen mit Essstörungen. Ich behauptete ich könne ihnen gegenüber keinerlei Sympathie empfinden. Schließlich hatte ich herausgefunden, wie ich wieder essen konnte, warum konnten sie das dann nicht? Und wie könnten sie nur so selbstbezogen sein, wo doch Menschen, insbesondere Kinder, wirklich hungern müssen, in den Teilen der Welt, in denen Hungersnöte und Krieg herrschen? Warum sollte sich jemand überhaupt Sorgen machen um Leute die absichtlich hungern, wo es sogar in den USA Familien gibt, die nicht mal ihre eigenen Kinder versorgen können? „Eine reiche Zicke, die nicht essen will? Ja und!“ lautete ein Witz von George Carlin über Frauen mit Essstörungen, und ich stimmte ihm voll zu. Ich glaubte, dass mein Mangel an Sympatie ein Anzeichen dafür wäre, dass ich meine Anorexie nun überwunden hätte, dass ich nun frei sei von der mir selbst auferlegten Selbstzerstörung, und dass ich vielleicht überhaupt niemals ein echtes Problem gehabt hatte, von Anfang an nicht.

Doch ich hatte ein Problem, und es begrenzte sich nicht nur auf die Anorexie. Und recht bald schon nahm dieses Problem einfach eine andere Gestalt an.

Bild 2: Die „liebes“- und drogenabhängige Frau

Kultur oder Biologie? Welches dieser beiden auch immer (oder waren es beide?) mich anorexisch gemacht hatte, das gleiche machte mich nun auch „liebes“- und drogenabhängig. Viele Leute betrachten das als zwei voneinander unabhängige Problemkomplexe, aber für mich ist das wie Roxy Music es in einem ihrer Songs beschrieben haben, dass „Liebe eine Droge [für mich] ist.“ Und ich setze „Liebe“ hier in Anführungszeichen, da ich natürlich durch keine meiner missbrauchenden Beziehungen mit Männern jemals Liebe erfahren hätte. Liebe erlebte ich in meinem Leben von meiner Familie und meinen Freunden, trotzdem suchte ich sie von Männern, die auf mich mit emotionaler und physischer Gewalt, mit Obsession und manchmal auch ganz einfach mit Desinteresse reagierten. Wenn ein stereotyper „netter Kerl“ an mich herantrat, interessierte mich das überhaupt nicht. Zeit mit einem Mann zu verbringen, der lieb zu mir war, der denken würde ich sein okay, der mich nicht verändern wollte, schien mir irgendwie uninteressant und abwegig. Ich suchte nach jemandem, den ich zufriedenstellen und/oder bei dem ich irgendetwas in Ordnung bringen müsste. Um ehrlich zu sein weiß ich nicht einmal, weshalb mir Männer so wichtig waren. Bis heute bin ich mir über meine Sexualität nicht im Klaren. Über die Jahre hinweg habe ich mich selbst als so ziemlich alles definiert, von heterosexuell bis bisexuell zu asexuell und pansexuell, bis zu dem was gerade als nächstes kommen könnte. Doch Label beiseite – ich persönlich denke diese Label können problematisch und oppressiv sein –, unterm Strich betrachtet suchte und suche ich immer noch häufig nach einer Bestätigung von Männern.

Ich habe meine „Liebesabhängigkeit“ erst durch eine langwierige Therapie für mein wohl noch schwerwiegenderes Problem mit der Drogenabhängigkeit begreifen gelernt. Denn nur einige Jahre nachdem ich mich von der Anorexie erholt hatte, wurde ich kokain- und cracksüchtig. Während meiner Behandlung wegen der Drogensucht schickte man mich auch zu den Treffen der Gruppe anonymer Sex- und Liebessüchtiger, da ich mit einem Mitpatienten eine sexuelle Beziehung eingegangen war. Ich musste erst lachen, als sie mich zu diesen Treffen schickten: Ich mochte Sex nicht einmal, auch tat ich mich schwer mit der Vorstellung einer romantischen Liebesbeziehung. Nach einer Weile ergaben diese Treffen aber Sinn für mich, und so auch der Zusammenhang zu meiner Sucht nach dem Kokain. Im Gehirn gibt es Chemikalien, die eine „Liebessucht“ stimulieren, so wie es Chemikalien im Kokain gibt, die eine Euphorie simulieren. Zudem verband sich meine Drogensucht mit Männern, sie war gespeist durch Männer, auch wenn ich die Verantwortung für meine Sucht selbstverständlich ganz alleine trage. Diese beiden Süchte haben, im Gegensatz zur Anorexie, beinahe jeglichen ethischen Codex, dem ich in meinem Leben gefolgt war, zerstört – insbesondere was den Punkt meiner eigenen Integrität und der nichtmenschlicher Tiere anbetraf.

Ich erzählte einer befreundeten Tierrechtsaktivistin einmal wie ich nach zehn Jahren Vegetarismus drei Jahre lang in die Fleischesserei zurückverfiel. Sie war schockiert als ich das sagte und ich merkte, dass sie mich dafür verurteilte. Ich bin mir sicher sie fragte sich: Wie kann es sein, dass jemand, nachdem er/sie die Wahrheit über das Tierleid einmal erfahren hat, sein Wissen wieder darüber wieder verlernt? Ich hatte die Wahrheit nicht vergessen, es machte mir nur einfach kaum mehr etwas aus. Sie und andere Aktivist_innen, die ich kennengelernt habe seitdem ich selbst Aktivistin geworden bin, erinnern mich, ohne dass es ihre Absicht wäre, daran, wie lang ich gebraucht habe um die Wahrheit zu internalisieren, statt sie einfach nur zu wissen. Ich höre von deren langen Werdegängen innerhalb der Bewegung, einhergehend mit einer langen veganen Praxis, heroischen Taten, Tierrettungen, usw., und dann denke ich an die zerstörerischen Süchte, die Teil meines Lebens waren, während die anderen bereits mit vollem Bewusstsein handelten.

So schlimm meine Anorexie auch gewesen ist, die Drogenabhängigkeit führte mich einen weitaus dunkleren Abgrund hinab. Bis heute sehe ich meine damalige Rückkehr zum Fleischessen als eines der zahlreichen Beispiele dessen, wie selbsthassend, egoistisch und lustabhängig ich damals geworden war. Die Kokainsucht führte bei mir dazu, dass mir alles andere egal wurde, außer dem, wie ich an mehr Kokain herankommen würde. Mir war egal mit wem ich dazu verkehren müsste, wo ich es herbekommen könnte, was ich dazu tun müsste, wen ich verletzen und wie ich mich behandeln lassen müsste, um es zu bekommen. So kam es auch dazu, dass wenn ich aß, was so alle paar Tage geschah nachdem ich von einem Drogentrip herunterkam, mir egal war, wem ich schaden würde um meinen hungrigen Körper zu nähren. Und mit den um die Drogen kaufen zu können anwachsenden Schulden auf meinem Konto, waren es die Fastfood-Restaurants geworden, die für mich zu billigen unumständlichen Orten wurden, wo ich mir mein Essen kaufte. Zusammenfassend gesagt begann ich damit, die faktischen Fragmente gefolterter Tierkörper zu essen, weil ich selbst mental gequält und emotional zergliedert war.

Während dieser Phase hatte ich einen „Komplizen“, einen Mann, wegen dem ich zweimal die Polizei rief, weil er mich emotional und körperlich misshandelte. Er gab vor eine Heroinsucht erfolgreich überwunden zu haben, und meinte, dass er daher seinen Alkohol- und Kokainkonsum locker im Griff habe. Ich dachte ich würde ihn lieben und glaubte, dass er mich liebte, weil er mir einmal mit Selbstmord drohte als ich ihn verlassen wollte, dabei hielt er sich sogar das Messer an die Schlagader um mir zu zeigen, dass er es ernst meinte. Wie gut es uns doch ging, dass wir mit dem Gedanken spielen konnten unsere Venen zu öffnen, während die Tiere, die wir aßen, diese Wahl nicht hatten.

Wenn wir gerade mal nicht high waren – und wir versuchten tatsächlich nicht high zu sein – dann waren wir hungrig. Und wenn wir Hunger hatten, dann labten wir uns an Tierfleisch. Da er zumeist kein Geld hatte, zahlte ich für unsere McDonalds-Besuche und unsere Frühstücke bei einem nahegelegenen Café, wo wir Käseomelettes und Pork Rolls (eine typische Mahlzeit in Philadelphia) aßen. An besonderen Abenden gingen wir in ein Pub in der Nähe, aßen Steak und tranken Wein (als wäre Wein keine Droge). Trotz der Tiefe, in die ich während meiner Sucht sank, fühlte ich mich nie wie ein Fleischesser. Ich fühlte mich eher wie ein Vegetarier im Gewand eines Fleischessers, denn selbst während meiner Suchtphase empfand ich das Fleischessen irgendwo in meinem Hinterkopf als etwas Schmähliches. Das entschuldigt mein Verhalten nicht, aber ich glaube ein Teil von mir wusste, oder hoffte, dass ich eines Tages zum Vegetarismus zurückkehren würde, auch wenn mir der Veganismus zu dem Zeitpunkt noch unvorstellbar vorkam. Die Wahrheit von The Sexual Politics of Meat existierte, nur mir war alles egal und ich handelte nicht entsprechend meines Wissens. Alles war mir egal, außer mein süchtiges Hirn mit Kokain zu versorgen und die „Liebe“ instabiler Männer.

Ich missachtete die körperliche Integrität von Nichtmenschen und ich missachtete auch die meinige. Es ist wenig überraschend, dass der Handel mit illegalen Drogen zumeist von Männern betrieben wird. Und obgleich ich in etwas bizarrer Weise stolz auf mich war, dass ich lieber Schulden machen würde, bevor ich meinen Körper zur Beschaffung von Drogen verkaufen würde, was so viele Frauen tun, muss ich wenn ich ehrlich bin aber einräumen, dass dies nicht die ganze Geschichte war. Ich bewegte mich aus den krankhaften Beziehungen nicht heraus, um mir meinen kontinuierlichen Fluss an Kokain zu sichern, und, mehr als einmal setzte ich meine Sexualität dazu ein, um die Droge zu erhalten. Ein Mann zwang mich sogar mit dem Messer auf die Knie, damit ich ihn für etwas Crack befriedige. In diesem Moment schützte ich mich vor der Reaität der Situation, indem ich mir sagte, dass er ja schließlich mein Freund sei und ich ihm den Sex doch schulde, da er mir die Drogen doch „umsonst“ verschaffte. In so einem Leben fand Mitgefühl wenig oder auch gar keinen Platz, nicht für mich, nicht für die, die mich liebten, und nicht für die Tiere, die ich aß.

Und wieder, so wie mit der Anorexie, hatte ich den Luxus aus der Krise herauszukommen, und wenn ich an die Behandlung denke, für die meine Eltern mehr als 50.000 Dollar zahlten, dann schäme ich mich, doch ich bin ihnen auch dankbar. Dieses Geld wurde gezahlt um mich aus einer destruktiven Beziehung und aus der Kokainsucht herauszuholen. In Folge dieser Erfahrungen habe ich mich in den letzten fünf Jahren für Opfer sexueller und häuslicher Gewalt in ländlichen Gegenden und für inhaftierte Jugendliche in urbanen Gegenden eingesetzt. Drogen und Alkohol sind oft ein Teil ihrer Geschichte, als Opfer sowie auch als Häftlinge. Im Gegensatz zu mir verfügen diese Menschen und ihre Familien aber nicht über die finanziellen Mittel, die nötig wären, um sie aus den Kontexten herauszuholen in denen der Drogenhandel floriert. Bis heute bin ich stolz darauf, dass ich die Kokainsucht überwunden habe, aber dieser Stolz ist durch das Gefühl getrübt, ein kleines weißes Mädchen zu sein, dessen Mami und Papi es aus einer verkommenen Welt herausgeholt haben, aus der andere nicht so leicht entfliehen können. Diese Ambiguität kehrt immer wieder zurück, so wie auch die Tiere.

Ich habe nun seit etwa acht Jahren kein Kokain mehr genommen und habe sogar einen Weg gefunden, wie ich meine Suchterfahrungen einsetzten kann, um den Nichtmenschen, die ich während der schlimmsten meiner Tage verraten habe, zu helfen. Zuerst hat mich diese Verknüpfung selbst überrascht. Während ich zwar verstand, dass die Anorexie mit der Verbindung von Speziesismus und Sexismus zu tun hat, so dachte ich doch nicht, dass meine hedonistischen Kokainzeiten irgendwann jemals etwas anderes sein könnten, als ein dunkler Teil meiner Lebensgeschichte, ein weiteres selbstverursachtes Hindernis das ich überwand. Ich bekam, als ich ehrenamtlich bei einer Tierbefreiungsgruppe in Minneapolis mitarbeitete, die Gelegenheit mit meiner bedauerlichen Geschichte etwas Konstruktives anzufangen.

Primaten, Ratten und Mäuse wurden (und werden immer noch) in einem Forschungslabor an der Universität von Minnesota, nur einige Meilen von meinem Wohnort entfernt, gewaltsam drogenabhängig gemacht. Eines der schlimmsten Gefühle, die ich jemals erlebt habe, ist es gewesen, von einem Kokain- oder Crack-High runterzukommen, wenn keine weiteren Drogen zur Verfügung standen und kein Geld für mehr Drogen da war. Um dieses Gefühl passend zu beschreiben, muss ich eine andere Person zitieren, eine starke farbige Frau, die während meines Genesungsprozesses kurzzeitig als meine Sponsorin einsprang. Sie formulierte es so: „Du kannst nicht schlafen, du kannst nicht wach sein, du kannst nicht still sitzen, du kannst dich nicht bewegen, aber du versucht die ganze Zeit immer wieder all diese Dinge zu tun. Dein Gehirn funktioniert nicht, doch es arbeitet forwährend daran, dich zu drängen mehr Kokain aufzutreiben. Und wenn du das nicht kannst, dann bist du wie ein eingesperrtes Tier, ein Tiger in einem kleinen Käfig.“ Dies ist die Extravaganz einer Metaphorik, aber sie drückt genau das aus, wie sich der Zerstörungsprozess der Sucht bemerkbar macht.

Die Tiere in der Universtät von Minnesota sind nun aber tatsächlich in Käfigen eingesperrt, in denen sie sich ruhelos hin und her bewegen, und sie können nicht schlafen, nicht wach sein, nicht still sitzen und sich nicht wirklich bewegen. Ich sage nicht gerne, dass die Folgen eines Drogenhighs Folter sind, aber im Falle der Primaten, Ratten und Mäuse ist dieses Wort genau das zutreffende. Während sie leiden macht ein Mensch seine Aufzeichnungen und entscheidet wann oder ob sie mehr Kokain, Heroin, Meth, Nikotin, Alkohol und so weiter verabreicht bekommen. Ein Mensch beobachtet sie in ihren Käfigen und trifft Einschätzungen darüber, wie lange sie es ohne Nahrung aushalten, während sie „mehr Stoff brauchen“. Ihre Eltern können sie nicht retten, weil sie ihren Eltern weggenommen wurden. Der Staat hat dem Problem mit-Drogen-misshandelter-Tiere keinen Krieg erklärt, im Gegenteil finanziert er die ihnen auferzwungenen Süchte. Und trotz vieler auf lokaler und nationaler Ebene betriebenen Versuche sie zu befreien, vermittelt das Desinteresse, das die Universität, die Justiz und die Öffentlichkeit deren Problem gegenüber zeigen, doch stark den Eindruck, dass sie niemals gerettet werden können. Obgleich Suchtexperten sich da uneinig sein mögen, aber diesen Wesen fehlt eines, was andere Süchtige hatten und haben: eine Wahl.

Ganz offensichtlich wird diese Forschung für Drogensüchtige wie mich durchgeführt; sie wird gemacht um Verhaltens- und Drogentherapien zu entwickeln, die die Drogensucht beenden können. Diese Forschung wird nun seit mehr als fünfundzwanzig Jahren durchgeführt, mit kaum bis zu gar keinen Ergebnissen. Es beunruhigt mich zutiefst, dass etwas, das ich einmal getan habe, in Verbindung mit diesen Experimenten an der Universität von Minnesota steht, und so nahm ich an einer lokalen Kampagne mit dem Titel „Kein Schmerz in meinem Namen“ teil, bei der ehemalige und immer noch drogenabhängige versuchen, ein Mitspracherecht bei der Frage zu erwirken, wie die Forscher in ihren Versuchen dabei, uns zu „reparieren“, vorgehen dürfen.

In dieser Kampagne sprechen wir in kurzen Videoclips von unseren Geschichten. In meinem Interview erkläre ich, wie die Drogensucht mein Leben zerstört hat, wie ich dadurch Freunde verlor, den Respekt meiner Familie und wie meine berufliche Laufbahn und mein Leben zum Stillstand kamen. Dann spreche ich darüber, wie furchtbar ich es finde, dass Tiere gezwungen werden, die Depression und die Isolation zu erfahren, die ich als Drogenabhängige durchmachte. Ich spreche auch über die Beobachtung, die ich oben bereits erwähnte: dass diese Forschung nun seit einem viertel Jahrhundert läuft und nichts an Resultaten hervorgebracht hat, was Drogenabhängigen geholfen hätte. (Obgleich selbst wenn die Forschung „erfolgreich“ gewesen wäre, so denke ich persönlich doch, dass der Zweck die Mittel nicht heiligt.) Meine Hoffnung und die Hoffnung anderer, die an dieser Kampagne teilnehmen, besteht darin, die Universität bloßzustellen und aufzuzeigen, dass diese Forschung nicht entschuldbar ist, und keinesfalls einen Anlass bietet, stolz auf sie zu sein. Wie ich in dem Video erkläre, habe ich, wie so viele andere, die Drogensucht überwinden können, ohne irgendein Zutun jeglicher Forschungen und Studien, die an dieser Universität stattfinden. Und so erzählen wir alle unsere verschiedenen Geschichten über den Drogen- und Alkoholmissbrauch und über die Heilung von der Sucht, und wir enden alle mit der gleichen Aufforderung, dem Appell: „In meinem Namen soll kein Leid verursacht werden.“ Es gibt bereits genug Leid, das aus der Entscheidung zur Drogensucht resultiert; wir wollen aber das Leid, das aus dem Zwingen anderer zur Drogensucht resultiert, beenden.

Bild 3: Eine erneurte, unperfekte Frau

Bei der Konferenz für kritische Tierstudien im Jahr 2012 sprach ich über mein Buch, mit vier anderen Redner_innen – zwei Männern und zwei Frauen – die auch über ihre Arbeiten sprachen. Ich war mit meiner Präsentation zuletzt an der Reihe, und während ich bei den anderen zusah und ihnen zuhörte, nahm ich wahr, dass die Frauen, als sie sprachen, hinter dem Podium standen, während die Männer sich hingegen locker neben das Podium stellten oder sich weiter vorne im Raum bewegten und dabei dynamisch gestikulierten. Man hörte die Frauen, aber sie versteckten sich zugleich, wenn auch unbewusst. Die Männer wurden gehört, und sie fühlten dabei keine Notwendigkeit sich zu verstecken. Wie würde ich mich verhalten? Mein Bauchgefühl war: „Ich werde das wie die Männer machen. Ich werde mich nicht hinter das Podium stellen!“ Aber nein, es zog mich hinter das Podium, dank kultureller und/oder biologischer Einflüsse; ich weiß nicht was von beidem. Ich thematisierte dieses Problem vor der Zuhörerschaft und später sagten mir einige Frauen, dass ihnen das Gleiche auch aufgefallen war.

Ich habe jetzt aber kein Problem mehr damit, hinter dem Podium gestanden zu haben, denn, so argumentierte ich in meinem Buch, unser Ziel als Frauen ist es nicht, wie Männer zu sein, ebenso wie wir nicht für Tiere kämpfen sollten, um menschlicher zu sein. In beiden diesen Kämpfen wird unser authentisches Selbst und das authentische Selbst anderer Spezies abgewertet. Unterschwellig wird in diesen Kämpfen vermittelt, dass Männer das Paradigma für Normalität stellen, ebenso wie die Menschen das allgemein tun, im Bezug auf Nichtmenschen. So habe ich, wie die anderen Frauen an diesem Abend, meinen Körper versteckt, aber auch meine Stimme hörbar gemacht. In meinem Vortrag sprach ich darüber, dass mein Buch ohne die Arbeit von Carol Adams, als zugrundeliegendes theoretisches Fundament, nicht existieren würde, und auch würde es nicht existieren wenn es keine Liebe, kein Mitgefühl und nicht die Gefühle gäbe, die in empfinde, wenn ich über die Milliarden nichtmenschlicher Tiere nachdenke, die jeden Tag unter der Grausamkeit der Menschen leiden.

Dies ist eine Erneuerung. Eine Frau, die einstmals hungerte und sich mit Drogen fast bis zur völligen Stumfpsinnigkeit vollgepumpt hat, erreichte ihr Ziel ihre Dissertationsarbeit fertig zu stellen. Sie wurde vegan und Tierverteidigerin. Und sie schrieb ein Buch, mit dem sie versucht, die Verbindungen zwischen allen kulturellen Unterdrückungsformen aufzuzeigen: die Unterdrückung der Frauen, der nichtmenschlichen Tiere, der LGBTQIA-Gemeinschaft, der Armen und der Ausgebeuteten.  Um ein ultimatives Klischee zu verwenden, das hier aber wirklich passt: Ich habe meine Stimme gefunden.

Doch bis heute setzte ich sie nicht immer ein, selbst wenn ich weiß, dass ich es tun sollte. Und manchmal bringe ich mich immer noch selbst zum Schweigen, in der Hoffnung bei Männern zu punkten. Nichts ist klar, einfach oder perfekt, aber ich bessere mich. Ich bin zu der Erkenntnis gekommen, dass, wenn ich für mich selbst nicht in allen Kontexten eintreten kann, ich auch niemals so ganz dazu imstande sein werde, mich für andere Menschen und nichtmenschliche Tiere einzusetzen. Der erste Schritt dabei ist diese Tatsache anzuerkennen und im metaphorischen Sinne meine Vene zu öffnen, so dass meine unangenehmen Wahrheiten kein Geheimnis mehr vor der Welt sein müssen; nur dann kann ich, und nur dann können andere, die meine Geschichte verstehen, meine Wahrheiten ohne Angst oder falsche Vorgaben reflektieren, so unbequem diese Wahrheiten auch sein mögen.

Zur Autorin
Dr. phil. Kim Socha ist die Autorin von Women, Destruction, and the Avant-Garde: A Paradigm for Animal Liberation (Rodopi: 2011) und Mitherausgeberin von Confronting Animal Exploitation: Grassroots Essays on Liberation and Veganism  und Defining Critical Animal Studies: A Social Justice Approach for Liberation. Unter anderem hat sie zu Themen publiziert wie: Latino/a Literatur, Surrealismus, Kritische Tierstudien (critical animal studies) und composition pedagogy. Kim Socha lehrt Englisch und ist aktivistisch tätig im Bereich der Tierbefreiung, transformativer Gerechtigkeit und der Reformierung der Drogenpolitik.

Übersetzung
Gita Yegane Arani-May, www.simorgh.de – ‚Open Access in der Tier-, Menschen- und Erdbefreiung’. Revised 8/2014.

Zitation
Socha, Kim (2014). Essay: Die Venen Öffnen. TIERAUTONOMIE, 1(4), http://simorgh.de/tierautonomie/JG1_2014_4.pdf.

TIERAUTONOMIE (ISSN 2363-6513)

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Ein Auszug aus der Einführung von Kim Socha: Animal Liberation and Atheism

Aus: TIERAUTONOMIE,  Jg. 1 (2014), Heft 3, ISSN 2363-6513.

Ein Auszug aus der Einführung von Kim Socha: Animal Liberation and Atheism (Freethought House, 2014)

Die griechische Mythologie (ein Glaubenssystem, dass heute nicht mehr so populär ist) erzählt die Geschichte von Prokrustes, einem Schmied, Dieb und Peiniger. Wenn er gerade nicht auf den Wegen zwischen Athen und Eleusis herumstreift, um nach Menschen zu schauen die er ausrauben kann, lädt er Reisende in sein Haus zur Übernachtung ein, und sobald sie sein Haus betreten, stutzt er sie zurecht um sie passend für sein Bett zu machen. Ist einer zu klein für das Bett, so streckt er ihn (der Namen Prokrustes bedeutet wörtlich „der Strecker“), ist einer aber zu lang, dann hackt er ihm die Glieder kurz, bis er ihn auf eine passende Größe gebracht hat. Und wenn wir meinen, jemand hätte diesen „Ausrecker“ überleben können, so hatte Prokrustes tatsächlich doch zwei Betten. Wenn also ein argloser Reisender in ein Bett passen würde, dann platzierte ihn sein Peiniger stattdessen in dem anderen Bett, um ihn dann für das Betten passend zu strecken oder zu kürzen.

Der Gedanke des „Prokrustes-Bettes“ erhielt sich und hat sich als Begriff dem heutigen Sprachgebrauch mit leicht variierenden Bedeutungen und in Abhängigkeit vom Kontext angepasst. Zumeist bezeichnet das „Prokrustes-Bett“ (und ich greife hier nicht weiter als zu einem konventionellen Online-Wörterbuch) „[…] einen arbiträren Standard, der durch exakte Konformität erzwungen wird.“ Ich zeige auf, dass religiöse Argumente für Tierrechte, Tierbefreiung und Tierverteidigung, trotz all des Mitgefühls, das hinter ihnen stehen mag, religiöse Parameter einfach zurechtstutzt oder streckt, um die Tierbefreiung dem passend zu machen, was tatsächlich ein anthropozentrisches, speziesistisches und hierarchisches Glaubenssystem ist, das es versäumt im Sinne der nichtmenschlichen Tiere zu sprechen.

Ich adressiere dabei nicht jede einzelne Religion, die durch die Menschheitsgeschichte hindurch existierte, um anhand dessen zu schildern, warum diese Religion letztendlich nicht Tierfreundlich ist, ich setze mich aber mit einigen spezifischen Religionen auseinander. Worum es mir hauptsächlich geht, ist es zu betrachten, wie das Konzept von Religion selbst (als der Glaube an eine höhere Macht, gleich welche Form auch immer sie annehmen mag) sich antithetisch verhält zur Befreiung der Tiere von der menschlichen Wahrnehmung, dass wir mit ihnen machen könnten, was wir wollen. Natürlich sind einige Religionen um ein beachtliches milder als andere, aber es existiert keine, die davon ausgehen würde, dass nichtmenschliche Tiere, und das menschliche Tier, ein gleiches Recht auf Personenschaft oder Parität haben. Gleichermaßen ist die säkulare Gemeinschaft langsam in ihrer Erkenntnis dessen, was eine Absage an den menschlichen Exzeptionalismus bedeuten könnte in Hinsicht auf unseren Umgang mit anderen Tieren. Wenn diese Verknüpfung von prominenten Atheisten, wie Richard Dawkins (siehe sein Essay „Gaps in the Mind“ auf das ich später noch zurückkommen werde), hergestellt wird, dann folgt den Überlegungen bislang aber keine entsprechende Handlung, wie die Annahme einer veganen oder vegetarischen Lebensweise oder Tierrechtler zu werden. So ist ein weiterer Zweck dieses Buches, sich ebenso den Mangel an Interesse für Tierbelange und Tierthemen in der säkularen Welt anzuschauen, um damit die Freidenker dahingehend zu inspirieren, ernsthafter über die anderen Tiere, mit denen wir gemeinsam auf dieser Erde leben, nachzudenken.

Für diejenigen, die über religiöse Autorität verfügen, eröffnet die Religion-als-Mittel einen Weg zur Macht über die Tierheit, einschließlich den Menschen, und die Ressourcen der Erde. Wie Prokrustes Bett, ist die Religion ein Instrument, das immer wieder dazu gebraucht worden ist andere zu verletzen. Immer wenn Religion eingesetzt wurde um in die Irre zu führen, zu diskriminieren und zu entmündigen, zeigt sie sich als Gewalt. Und, wie jemand, der glaubt, dass Götter, Göttinnen, Dämonen, Geister, göttliche Gebote und andere übernatürlichen Konzepte konstruierte, erfundene Konzepte sind, die häufig von Menschen, die Macht haben, missbraucht werden, so argumentiere ich, dass Religion einen fortwährenden Zustand der Irreführung darstellt. Es liegt bei jedem Individuum selbst zu entscheiden, ob es/sie Religion nutzen will oder nicht. Meine Intention liegt darin, dieses Prokrustes-Bett zu dekonstruieren und aufzuzeigen, dass es ein gefährlicher Apparat ist – einer, über den wir nicht gezwungenermaßen zu lügen hätten. Und wenn man auch seinen Trost in der Religion finden mag, so sollte man ihre Fundamente nichtsdestotrotz kritisch analysieren. Die kuscheligen Kissen und Decken, können so angenehm sein, man liegt in ihnen und ist dem Zustand letztendlich erlegen. Die anderen-als-menschlichen Tiere, auf deren Leben und Tod sich die westliche Zivilisation errichtet hat, sind ebenso machtlos gebettet und werden zu Milliarden jedes Jahr getötet. Religion erlaubt, sanktioniert und fordert sogar dieses vermeidbare Gemetzel.

An dieser Stelle fragen Sie sich vielleicht, was aus Prokrustes geworden ist. Die Antwort erweitert die Metaphorik und klärt auch den Zweck dieses Buches. Er wurde von dem griechischen Helden Theseus getötet, auf genau dem Bett, auf dem er seine zahllosen Opfer verstümmelt hatte. Fritz Graf merkt an, dass Theseus eine neue Art des Helden im griechischen Mythos verkörperte, einer der progressiver als solche Rohlinge wie Herkules waren; in der Tat bezeichnet Graf die Gestalt Theseus als einen „Zivilisierer.“ Prokrustes und seine Erweiterung im Bild seines Folterbettes wurde durch eine zivilisierende und aufklärerische Kraft vernichtet. Theseus „machte den Weg von Troezen nach Athen für die Reisenden sicher. Es wird gezeigt, wie er die Straßen und Wege von allen Arten der Banditen bereinigt“, auch von den anderen bösartigen Unholden, die die Menschen die Felskluften hinabwerfen, sie zerschmettern und zerreißen. Für mich ist das letztendlich, was der Atheismus tut. Er bereinigt den Weg zur säkularen Aufklärung, so dass beispielsweise Menschen mit dem gleichen Geschlecht (oder keinem identifizierbaren Geschlecht) ohne Angst vor sozialem Ausschluss leben können; er lässt Frauen gebildet und einflussreich sein; er macht klar, dass kein Kind eine genitale Verstümmelung durchleben muss/darf; und er hinterfragt die Myriaden an Grausamkeiten, die im Namen einer unsichtbaren Gottheit durchgeführt wurden und werden. Was dem Atheismus noch fehlt, ist es, sich für die anderen-als-menschlichen-Tiere auszusprechen, denn auch ihr Weg muss bereinigt werden, so dass sie ihr Leben führen können, auch wenn das impliziert, dass sie andere Tiere, um zu überleben, töten – ohne dass der Mensch sich in diesen Prozess gewaltsam einmischen darf. Der Zweck dieses Textes ist es, ein Gespräch über das Thema zu starten, was im Interesse der Tierverteidiger, so wie auch der säkularen Gemeinschaft liegen sollte. Idealerweise kann dieses Thema für jeden, der sich ein gewaltfreieres Leben und eine gerechtere Welt wünscht, von Interesse sein.

Wir haben Can Başkent über Schnittstellen zwischen Atheismus und Tierrechten befragt

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Aus: TIERAUTONOMIE,  Jg. 1 (2014), Heft 3, ISSN 2363-6513.

Wir haben Can Başkent über Schnittstellen zwischen Atheismus und Tierrechten befragt

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Wir fragten Can Baskent über sichtbare und unsichtbare Formen der Gewalt gegen Tiere und die Umwelt im Namen der Religion, und, ob ethischer Veganismus eine Ablehnung von Seinshierarchien aller Art mit sich bringen sollte.

Can Başkent  (http://canbaskent.net/logic/CV.pdf) ist geboren in Istanbul in der Türkei. Er hat Mathematik und Philosophie studiert, seinen Masters Degree in Logik in Amsterdam erhalten und in New York in Computerwissenschaften promoviert. Seine akademische Tätigkeit führte er in Frankreich fort an der Sorbonne und der École Normale Supérieure im Bereich Philosophie; am French Institute for Research in Computer Science and Automation (INRIA) arbeitete er als Forscher. Als Aktivist hat Can zahlreiche Texte zu Anarchismus, Atheismus, zu veganen- und tierrechtsrelevanten Themen verfasst. Er hat sich für die „Food not Bombs“-Kampagne engagiert und leitete eine Kampage zur Unterstützung des veganen politischen Gefangenen Osman Evcan. Im Jahr 2011 gründete er den anarchistischen Verlag ‚Propaganda Yayınları’ (‚Propaganda Presse’, http://propagandayayinlari.net/), 2013 verfasste er gemeinsam mit der veganen Journalistin Zülâl Kalkandelen (http://veganlogic.net/) das erste türkischsprachige Handbuch zu politischen Aspekten des ethischen Veganismus: ‚Veganizm: Ahlakı, Siyaseti ve Mücadelesi’ (‚Veganism: Its Ethics, Politics and Struggle’) http://propagandayayinlari.net/vegan.html. Cans Webseite ist unter der URL http://canbaskent.net/ abrufbar.

In diesem Land ist es nicht einfach ein Atheist zu sein. An erster Stelle deshalb, weil die Verletzung der religiösen Gefühle anderer als eine Art „Straftat“ gebrandmarkt wurde.
Ramadan Atheismus / Ramazan’da Ateizm, http://www.canbaskent.net/politika/86.html

Die Diskriminierung aufgrund religiöser Gesinnungen betrachtet man heutzutage als eine Verletzung von Menschenrechten. Dass Religion selbst eine Verletzung der Menschenrechte darstellt, wird dabei aber stetig vergessen.
Ein reformisitscher Atheismus / Bir Devrimcilik Olarak Ateizm http://www.canbaskent.net/politika/85.html

Can: Ich finde, dass viele Leute in der Türkei eine unbegründete Panik haben. Als Atheist hatte ich hier bislang keine Schwierigkeiten, außer dass ich ab und zu mal ein paar lächerliche Hatemails erhalte. Maßnahmen werden hier zumeist nur gegen berühmte Persönlichkeiten ergriffen. Solange du nicht immer mal wieder im Fernsehen erscheinst oder ständig in der Presse erwähnt wirst, ist es den Behörden egal ob irgendein Durchschnittsbürger gegen entsprechende Gesetzesregelungen verstößt oder nicht. Es ist hier also diesbezüglich sicherer als man glauben mag und wir sollten uns nicht hinter der Angst vor gesetzlich-staatlichen Repressionen verstecken.

1. Das Töten bezeugen

TA: In deinem Text über ‚das Opferfest’ (Kurban’in Bayrami, http://www.canbaskent.net/vegan/19.html) stellst Du die Frage in den Raum, warum das Argument einer kognitiven Dissonanz beim Menschen, der sich seiner eigenen Grausamkeit nicht bewusst werden will (weil er ihrer nicht bewusst werden muss) im Falle von ‚Opferfesten’ nicht greift. Dass sich die Überlegung: ‚wenn Schlachthäuser Glaswände hätten, würde die Menschen Vegetarier’ in der Türkei während des Opferfestes als unzutreffend erweist. Es existiert eine soziale Akzeptanz für eine offene Grausamkeit gegenüber Tieren, wenn so ein „Volksspektakel“ in einer religiösen Praxis eine gewisse Tradition vorweisen kann.

Im „säkularen Westen“ ist die Sichtbarkeit des Speziesismus der Tötung-des-Fleisches-wegen eine modifizierte. Das Töten selbst bleibt zumeist eher unsichtbar indem es abdelegiert wird. Bei einem massenhaft veranstalteten Tieropfer im Namen einer Religion, wie in dem Falle im Islam, ist die Grausamkeit: Tier = Fleisch und Tier = Opfer unmittelbar für jeden, ob er will oder nicht, zu sehen, und jeder der möchte kann daran teilnehmen und selbst auf der Straße einen Nichtmenschen töten. Solche Veranstaltungen und Festivitäten haben eine starke öffentliche Sichtbarkeit und sind in diesem Falle spezifisch an religiös eingefärbte Traditionen gebunden.

Einige Menschen argumentieren, dass es wohl ehrlicher wäre, wenn alle den Tiermord zu sehen bekämen. Sehen wir im religiös (zumindest) sanktionierten Töten von Nichtmenschen einen noch ursprünglicheren Akt eines tiefenpsychologischen Speziesismus, während der Tiermord „um des Fleisches willen“, durch einen Metzger oder ein Schlachthaus, ein Modernismus im Speziesismus ist bei dem die Dechiffrierung anders verlaufen muss?

Can: Ich muss zuerst sagen, dass ich niemals geglaubt habe, dass der Grund warum die meisten Leute nicht vegan sind, epistemologischer Natur ist. Die Dinge sind nicht so wie sie sind, weil die Leute etwas nicht wissen oder ihnen nicht bewusst wäre, dass das was sie essen bzw. töten fühlende Lebewesen sind. Echte Psychopathen töten ihre Opfer von Angesicht zu Angesicht, ohne irgendein Hemmnis. Die Tiere zu essen (die man zuvor erjagt / erlegt hat) ist eine vergleichbare Tat; es ist noch grausamer, noch „männlicher“.

Und sicherlich, die Religion reflektiert schlichtweg dieses Diktum. Da Gott aber nicht existiert und die Religionen nicht wirklich von einem „Gott“ geschickt worden sind, reflektieren deren „heiligen“ Texte einfach nur dieses herrschende Paradigma.

Ich glaube nicht, dass die besondere Hervorhebung unterschiedlicher speziesistischer Einsichten und Praktiken nützlich ist, aber, da es sich aber um Verschiedenheiten bei ihnen handelt, müssen sie alle in spezifischer Weise bekämpft werden.

Und hier wäre noch ein anderer Bedenkenspunkt. Man muss die religiösen Praktiken verstehen lernen, die Angst, die hinter ihnen steckt; der Bedarf, durch den sie entstanden sind – das sind Punkte die wir verstehen müssen um zu sehen, weshalb Menschen bei solch grausamen Praktiken mitmachen. Man kann diese Verbrechen nicht abschaffen ohne ein Ideal einen „Himmels“, die Furcht vor dem Unbekannten, usw. zu demontieren. Es gibt also einen „menschlichen“ und „sozialen“ Grund warum Leute meinen es sei völlig normal wenn Menschen (junge Mädchen, Tiere, usw.) opfern, in einem Glauben an solche Fehlannahmen. Solange wir diese Annahmen nicht aus der Welt schaffen können, kommen wir in dem Punkt nicht weiter.

2. Gräben bestehen lassen?

TA: Der ethische Vegetarismus kann auf eine Geschichte zurückverweisen, die älter als die großen monotheistischen Religionen (Islam, Christentum und das Judentum) ist. Gerade diese Religionen sind es nun aber, die im gegenwärtigen Diskurs über Lebensethik und moralisches Handeln heute wieder eine maßgebliche Rolle einnehmen oder auch einnehmen wollen.

Der ethischen Kritik seitens veganer Tierrechtler an der allgemeinen Gesellschaft (im säkularen Sinne) wird normalerweise entweder mit verschiedenen Graden der Verneinung und Ablehnung (Speziesismus) begegnet oder aber mit einer gewissen Offenheit und auch Diskursbereitschaft, bei der die schier endlosen Fragen über die tatsächliche, ethisch so problematische Konstitution unserer Gesellschaften in Hinsicht auf die Nichtmenschen und die Umwelt aufgeworfen werden können.

Bei religiösen Glaubensystemen können wir eine Öffnung für fundamental neue Einsichten weniger erwarten, da deren Dogmen und Prinzipien in ihrer religionsgeschichtlichen Vergangenheit durch die Propheten und heiligen Schriften in deren Endzielen festgelegt worden sind – dazu zählt auch die Bewertung von Leben, die Festlegung über Seinshierarchien: Tier-, Pflanzenwelt, die Erde insgesamt, stehen unter Gott und unter dem Menschen, deren Obhut oder Tyrannei sie unterworfen sind. Auch binden religiöse Praktiken und Traditionen an das jeweilige Glaubenssystem und auch sie beinhalten zumeist eine Sicht auf Tiere und die Umwelt als dem Menschen untergeordnete Objekte, denen der Mensch mit Wohlwollen aber auch mit Ignoranz gegenüber treten darf, ohne weitere soziale Konsequenzen.

Religionen benennen die Destruktivität gegenüber unseren Mitlebewesen und der Umwelt nicht als eine frevelhafte Sünde, erheben aber einen Anspruch als moralische Instanzen und ethische Wegweiser für alle Bereiche des Lebens. Kann dieser Anspruch der großen Weltreligionen, ethisch rund um den Sinn und Zweck des Lebens Antworten bieten zu können, in einer Zeit, in der sich Gesellschaften zunehmend für Fragen der Tierethik und umweltethische Fragen sensibilisieren, überhaupt noch maßgeblich sein? Inwieweit müssen wir uns in unserem ethischen Diskurs auf deren Positionen einlassen? Inwieweit können wir sie als anthropozentrisch abtun?

Can: Sicher, wer könnte die wichtige Rolle eines religiös motivierten Vegetarismus in Indien verneinen? Wie wir anhand solch eines Beispiels sehen, bieten Religionen manchmal einen pragmatischen Vorteil – im Falle des Hinduismus ist dies aber nur eine günstige  Nebenerscheinung. Ein wesentliches Problem mit dem religiös motivierten Verzicht auf das Töten von Tieren, ist die eingegrenzte Sichtweite mit der wir es hier zu tun haben. Allerdings haben jedoch auch die meisten anderen Menschen, die nicht religiös sind, eine engstirnige Sichtweise auf das Leben. Im politischen Sinne, so denke ich, dürfen wir die Religionen als soziologischen Fakt nicht ignorieren oder ablehnen. Ein revolutionärer politischer Kampf darf sehr wohl mit dem einen Bein in der Realität fußen, während zugleich ein Schritt in die Zukunft getan wird.

Religion ist ein soziales Phänomen, das Menschen eine Errichtung und Ausübung von Herrschaft ermöglicht. Es gibt eine ökonomische Seite der Religion neben der „moralischen“. Man kann sich leicht vorstellen, wie ein moralischer Codex dem Klerus dabei hilft, sich ökonomische (parteipolitische, selbst sexuelle) Vorteile zu verschaffen. Wir können bei Religion also noch nicht mal von einer ehrlichen Moral sprechen. Politisch brauchen wir aber eine Balance. Wenn die meisten Menschen [im engeren oder weiteren Sinne] gläubig sind, und wenn diese Leute diejenigen sind, die man im Sinne der Tierbefreiungsbewegung zum Nachdenken bringen will, dann muss man bei seiner Formulierung anti-religiöser Perspektiven vorsichtig, wenn auch direkt vorgehen. Es ist gewissermaßen eine Kunst, das zu bewerktstelligen.

Leute wie ihr seid letztendlich nicht meine Zielgruppe, da ihr ja bereits am Ziel angelangt seid. Wen ich versuche zu erreichen, sind diejenigen Menschen, die jeden Tag Fleisch essen und zweimal in der Woche zu ihrem Gotteshaus [Kirche, Moschee, usw.] gehen. Wenn ich diese Leute verärgere, dann werden noch mehr Tiere aufgrund meiner Arroganz und meiner falschen Strategie sterben. Das ist ein Preis, den zu zahlen ich nicht bereit bin.

3. Der Gipfel irdischer Existenz: der Mensch?

TA: Tierrechte und der Schutz der natürlichen Lebensräume aller Lebewesen formen andere politische, soziale und moralische Endziele als die Endziele der Religionen, in deren Mittelpunkt der Mensch als „Ebenbild Gottes“ steht. Unsere Widerstandsbewegungen formulieren neue Fragestellungen über Seinshierarchien. Ist die Infragestellung von Seinshierarchien, nämlich dass der Mensch nicht die Krone der Schöpfung ist/sein kann, ein notwendiger Pradigmenwechsel im Denken, oder reicht es, wenn Menschen sich zu mehr Verantwortung gegenüber ihrer Mitwelt und ihren Mitlebewesen verpflichten, auch wenn sie das nur im Sinne einer anthropozentrischen Hybris tun?

Can: Vielleicht ist dies ein guter Augenblick um festzuhalten, dass eine anthropozentrische Herangehensweise nicht das eigentliche Übel ist. Immerhin ist selbst der Veganismus anthropozentrisch. Der Mensch / Anthro muss kein Übel darstellen. So halte ich es auch weder für philosophisch noch für pragmatisch hilfreich, wenn wir meinen, wir sollten beginnen nicht mehr menschlich zu denken oder zu agieren. Anders gesagt: Wir müssen Menschen sein um vegan zu sein (deinen Hund dahingehend zu forcieren, dass er vegan lebt, zählt hier nicht aus leicht nachvollziehbaren Gründen). Dem muss ich hinzufügen, dass ich an eine Pluralität in der Bewegung glaube: manche Menschen sind stärker am Menschen ausgerichtet, manche stärker an den nichtmenschlichen Tieren und/oder der Ökologie. Das alles ist richtig und es ist relevant für ein erweitertes und vielleicht heterodoxeres Verständnis von Gott. Das ist ein kompliziertes Thema.

Wenn Menschen mit einer sehr harmlosen Vorstellung eines liebenden und gewaltlosen Gottes leben, was denke ich mir dabei? Ich denke, dass eine göttliche Gewalt nicht das einzige Übel ist, das man mit Gott assoziieren kann, und Gott zu einem gewaltlosen Gott zu erklären, löst das Problem nicht unmittelbar. Dennoch kann dies Menschen und nichtmenschlichen Tieren in praktischer Hinsicht helfen. Und wie ich bereits zuvor gesagt habe, wir sollten vorsichtig sein, wenn es darum geht das Leben von Tieren aufs Spiel zu setzten allein wegen unserer Vorstellungen von politischer Korrektheit.

Ich hoffe ihr könnt das Paradox hierin erkennen: Tierrechtsaktivisten opfern Tiere manchmal auch (u.z. in indirekter Weise), wegen ihrer Vorstellungen von politischer Korrektheit. Diesen Aspekt sollte man nicht unbeachtet lassen.

4. Grenzen und Barrieren?

TA: Die Religionen sprechen von den indirekten Pflichten, die wir gegenüber den Tieren und der Umwelt haben, das heißt vom Mitgefühl mit den Tieren als menschliche Tugend die gottgefällig ist (denn sie sind ja Teil der „Schöpfung“ Gottes). In der Tierbefreiungsbewegung formulieren wir Gedanken und Thesen, die Tiere und die Umwelt in einer eigenen, autonomen Würde und in ihrem Eigenwert zu beschreiben suchen und wir postulieren damit einige (erste) Grundsätze zu ihrem Schutz und zu ihrer Verteidigung. Wenn wir die Tier- und die Umweltbewegung (als nicht-antropozentrische ethische Rahmenwerke) im Spezifischen den religiösen Glaubenssystemen gegenüberstellen, als zwei unterschiedliche soziale Epistemologien in denen Ethik definiert wird, birgt das Abrücken vom Anthropozentrismus (die Forderung der Tierrechts- und von Teilen der Umweltbewegung) ein Konfliktpotenzial in dem Moment, in dem Religion (als anthropozentrisches Rahmenwerk) in einer Gesellschaft einen verstärkten Raum einnimmt? In anderen Worten: schaffen religiöse Dogmen und autoritäre Glaubensansprüche eine Einengung, wenn es in ethischen Debatten um Ansätze geht, in denen der Anthropozentrismus als Barriere ethischen Denkens erkannt wird?

Can: Nein … religiöse Philosophie ist ein reiches und sehr breites Feld. Es gibt so große Denker, die ihr Leben damit verbrachten, beeindruckende Abhandlungen zu verfassen in denen sie Moralität mit Religion verbinden. Averroes und Abelard sind die ersten, die mir dabei einfallen. Religion ist eine komplexere Angelegenheit als viele Atheisten meinen, auch  hatte sie mehr wichtige Denker als die meisten Atheisten annehmen. Aber natürlich ist nicht jeder Gläubige ein Abelard (man würde sich das wünschen), dennoch kann das religiöse Moralitätsverständnis eine beeindruckende und sehr kluge Philosophie hervorbringen, und das hat es auch getan.

Aber natürlich betrachten 99,9% religiöse Dogmen als Rahmenwerke von Einschränkungen und Tabus. Ich solch einer Welt kann sich ein Vernunftsdenken nicht entwickeln.

5. Protestpflicht?

TA: Haben wir ein grundsätzliches moralisches Recht, dass wir uns einen Raum für eine freidenkerische Sicht schaffen dürfen, in der die nichtmeschlichen Tiere und die Umwelt mit in den ethischen Mittelpunkt gerückt werden, auch wenn uns das automatisch und vielleicht ungewollt in eine prinzipiell antagonistische Position insbesondere zu stark religiösen Menschen und religiösen Gemeinschaften versetzt? Und damit einhergehend möchte ich fragen: Kann uns diese Freiheit im Denken über die Mensch-Tier und die Mensch-Umwelt-Beziehung aus einem „gesellschaftlichen Kontraktualismus“ herauskatapultieren?

Can: Jede Annahme über Moralität kann zu einer Art des Autoritarismus führen. Wenn man sich all die faschistischen und dogmatischen Morallehren ansieht, wird man immer solch einen essentialistischen Aspekt vorfinden: es wird davon ausgegangen, dass Menschen entweder schlecht oder eben gut im Geiste und der Gesinnung sind. Das macht deren Philosophie mit Sicherheit leichter im Aufbau und im Verständnis, aber das Resultat ist schlichtweg eine weitere metaphysische moralphilosophische Annahme, die das Risiko des Essentialismus trägt. Menschlicher und nichtmenschlicher Kontraktualismus stellt, so meine ich, ein sehr gefährliches Feld dar, wodurch der Veganismus über seine realen Grenzen hinauskatapultiert wird und es zu einer quasi religiösen Rekonstruktion kommen kann. Ich trete für eine empirische, dynamische und interaktive Moralität ein, die auf ihr zugrundegelegte Annahmen oder Rechte (selbst das auf Leben) verzichten kann.

6. Wo liegt die goldene Mitte?

TA: Wenn nun aber beides, Religion und Tierbefreiung, sich punktuell miteinander vereinbaren ließen, sollten wir uns dann keine weiteren Sorgen darüber machen, dass Tierrechte/Tierbefreiung und Umweltschutz wieder nur bedingte ethische Belange sind, und dass durch eine Kompromissbereitschaft oder gar Vermischung von Tierrechtsethik und (anthopozentrischer) Religion auch weiterhin kein ursächliches Umdenken angestoßen werden kann? Ist die Befürchtung berechtigt, dass in einer, durch die Religion ethisch und moralisch stark beeinflussten Gesellschaft, keine wirklich neue und gerechte Sichtweise und Politik „über den Menschen hinaus“ erarbeitet werden kann?

Daran anschließend die Frage: Braucht ein stark biologistisch belegtes Feld – das heißt alle Themen rund um die nichtmenschlichen Tiere und deren natürliches Habitat – überhaupt ein fundamentales Umdenken in seinen ethischen, sozialen und politischen Variablen?

Can: Nun ja, die Evolution ist ein Phänomen der Kontinuietät. Ich kann mir heute nicht vorstellen, wie die Tierbefreiung in hundert Jahren aussehen wird. Was selbst schon das letzte Jahrhundert anbetrifft, so konnten wir unglaublich viele neue gute und einmalige Ideen kennenlernen, an die sich spannende revolutionäre Praktiken banden. Ich wüsste nicht, weshalb wir daran zweifeln sollten, dass sie Zukunft noch viele Potentiale in sich birgt.

7. Utopien?

TA: Ließe sich eine anthropozentrische Religion so weit über Auslegungen dehnen und modifizieren, dass zum Beispiel der Mensch nicht mehr allein das Privileg hätte Ebenbild Gottes zu sein, sondern, dass die ganze Welt ein Wert ist, der den höchstmöglichen Respekt und die höchste Reverenz verdient? Hätte Religion überhaupt noch ihren eigenen Sinn und ihre eigene „gesellschaftsstiftende“ Funktion, wenn sie nicht seinshierarchisch wäre?

Can: Doch, ich denke schon. In zahlreichen unterschiedlichen Interpretationen der verschiedenen großen Religionen (einschließlich des Islam und des Buddhismus) finden wir solche Spuren vor. Der heterodoxe Islam bietet einige interessante und beeindruckende Beispiele dessen, so etwa die Vorstellung, dass jeder Organismus als eine Reflektion von Gottes „Gutem“ betrachtet wird.

8. Materielle Instinkte versus abstrakter Geist?

TA: Wir setzten bei Tieren die Empfindsamkeit (sentience) als entscheidendes und hauptsächliches Kriterium voraus (in säkularer und naturwissenschaftlicher Hinsicht), als qualifizierendes Merkmal für den Sinn und Wert tierlichen Lebens in der Welt. Diese Qualifikatoren sind primär an die biologische Konstitution des jeweiligen Organismusses und an unser Verständnis davon gebunden. In den großen abrahamitischen Religionen bildet sich der hauptsächliche Sinn des Lebens über die Gebote Gottes und andererseits den Sündenbegriff. Die Vorstellungen von Recht und Unrecht, Wert und Unwert messen sich am Parameter „Gott“. So haben wir auf der säkularen, naturwissenschaftlichen Ebene das biologische Fühlen (sentience) des Tierseins auf der einen Seite, und auf einer anderen steht ein menschlich abstraktes Denk- und/oder religiöses Glaubensgefüge. Sind die Trennungen zwischen sensorischem Fühlen (sentience) und Geist nicht genau der Punkt, der die Hierarchien und Unterteilungen von Lebewesen und Organismen arbiträr am Leben erhält? Ist fühlen nicht auch Geist? Natur und Gott bilden quasi eine Dichotomie zwischen abgewerteter Körperlichkeit und Gott ist der aufgewertete Geist nicht-irdischen Seins, als wäre die Welt selbst wirklich nur da, um „genutzt“ zu werden (vom Menschen), sie selbst darf aber nicht mehr sein als „wertloser“ Körper ohne Geist. Ist die Instinkttheorie, dass Tiere nur sentience haben, aber keinen „vitalen Geist“, nicht eigentlich der logische Schluss aus einer religiösen Vergangenheit, die die Tiere in die verachtete, herabgewürdigte natürlich-körperliche „geistlose“ und „nicht-denkende“ (und nicht-glaubende) Welt eingeordnet hat?

Can: Diese Frage kann ich in der Kürze nicht beantworten. Es gibt Beispiele für all solche Facetten, von Denkern wie Spinoza bis hin zu Averroes, von Abelard zu Siddharta. Das kartesische Denken im Bezug auf Tiere ist nun oft widerlegt worden, und die Philosophie hat für sich eine breitere, stärker wissenschaftlich orientierte Herangehensweise angenommen

TA: Vielen Dank Can, dass Du uns bei der Suche nach Antworten auf unsere Fragen geholfen hast!

Can: Danke für die schwierigen Fragen :)

Radikale Selbstfürsorge und Tierbefreiung

Die radikale Selbstfürsorge und der Gedanke sozialer Gerechtigkeit verbindet eine lange gemeinsame Geschichte, die zurückgeht bis zur abolitionistischen- und zu der Anti-Sklavereibewegung des späten 18. und des frühen 19. Jahrhunderts. Es gibt ein Zitat von einer schwarzen Frau namens Mrs. Wittington, das, so finde ich, wirklich den Geist dessen erfasst, was die radikale Selbstfürsorge in der Bewegung sozialer Gerechtigkeit bedeutet:

Wir wollen leben und nicht einfach nur so von Tag zu Tag existieren – so wie ihr oder irgendein Mensch es auch will.

Als Tieraktivist_innen können wir diesen Anspruch erweitern auf den Einbeschluss aller Lebewesen. Als Lebewesen wollen wir mit Würde leben, und ich denke, dass wir uns genau dafür einsetzten können – für diese Bedeutung der Würde, nämlich, dass das Leben über die bloße Subsistenz oder das von-Tag-zu-Tag-existieren hinausgeht. Das ist ein zentraler Punkt, und wir sollten dazu imstande sein, dass dies in unserem eigenen individuellen Leben für uns irgendwie fühlbar wird, damit wir das Bewusstsein in unsere aktivistische Arbeit in einer erweitert kreativen und informierten Art und Weise hineintragen können.

Aus: Anastasia Yarbrough: Radikale Selbstfürsorge in Erwägung ziehen: Tierrechte – denn das Leben zählt, https://simorgh.de/about/yarbrough-radikale-selbstfuersorge/.

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Bild: International Bird Rescue Center, http://www.bird-rescue.org/

Alex Herschafts Rezension des 1997 erschienenen Buches Slaughterhouse von Gail Eisnitz, dessen Aussage in unveränderter Weise relevant ist

Alex Herschafts Rezension des 1997 erschienenen Buches Slaughterhouse von Gail Eisnitz, dessen Aussage in unveränderter Weise relevant ist

Gail A. Eisnitz: Slaughterhouse
Eine Rezension von Dr. phil. Alex Hershaft, Vorsitzender von FARM

Slaughterhouse
by Gail A. Eisnitz
Prometheus Books, New York, 1997
310 pp, $29.95 hc

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Übersetzung aus dem Amerikanischen: Gita Yegane Arani-May. Mit der freundlichen Genehmigung von Dr. phil. Alex Hershaft.

Inmitten unseres protzenden, hedonistischen High-Tech-Lebensstils, zwischen den blendenden Denkmälern der Geschichte, Kunst, Religion und des Kommerzes, sind die “black boxes”. Das sind die biomedizinischen Forschungs-Laboratorien, Fabrik-Farmen und Schlachthäuser – anonyme Gelände, wo die Gesellschaft ihr schmutziges Geschäft der Misshandlung und des Tötens unschuldiger fühlender Lebewesen durchführt.

Dies sind unsere Dachaus, unsere Buchenwalds, unsere Birkenaus. Wie die guten deutschen Bürger, haben wir eine ziemlich genaue Idee über das, was dort geschieht, aber wir wollen keinerlei Überprüfung der Wirklichkeit. Wir rationalisieren, dass die Tötung erledigt werden muss, und dass es human gemacht wird. Wir fürchten uns davor, dass die Wahrheit unsere Sensibilitäten kränken könnte und uns vielleicht dazu zwingen würde, etwas zu tun. Es könnte unser Leben verändern.

Slaughterhouse von Gail Eisnitz von der ‘Humane Farming Association’, ist eine das Innerste zerreißende, ernüchternde und zugleich sorgfältig dokumentierte Aufdeckung von unsäglicher Folter und dem Tod in Amerikas Schlachthäusern. Es sprengt deren allgemeines Image von unklaren Fabriken, die stummes ‘Nutzvieh’ zum sterilen, cellophanverpackten ‘Nahrungsmittel’ in der Fleischauslage machen. Die Angaben von Dutzenden von Schlachthausarbeitern und USDA-Inspektoren ziehen den Vorhang zu abscheulichen Höllenlöchern auf, in denen die letzten Minuten von unschuldigen, fühlenden, intelligenten Pferden, Kühen, Kälbern, Schweinen und Hühnern in endlose Todesqualen gewandelt werden. Und ja, das Buch mag wohl ihr Leben verändern. Hier sind einige ausgewählte Textstellen (Warnung! Das Material das folgt ist stark erschütternd).

Die Todesqualen beginnen wenn die Tiere über lange Distanzen transportiert werden, unter extremen Beengungen und harten Temperaturen. Hier ist ein Bericht von einem Arbeiter der damit beauftragt ist Schweine abzuladen: “Im Winter kommen einige Schweine total an die Seiten des Lasters angefroren rein. Man bindet eine Kette um sie und reißt sie von den Wänden des Lastwagens. Dabei bleibt ein dickes Stück Haut und Fleisch zurück. Sie haben vielleicht noch ein bisschen Leben in sich, aber die Arbeiter werfen sie einfach auf Stapel von toten Tieren. Sie werden sterben, früher oder später.”

Einmal in dem Schlachthaus sind einige Tiere zu verletzt um zu laufen und andere verweigern sich einfach still in ihren Tod zu gehen. Dies ist wie die Arbeiter damit umgehen: “Die bevorzugte Methode einen Krüppel zu behandeln, ist ihn mit einem Bleirohr totzuschlagen bevor er in die ‘chute’ kommt … . Wenn du ein Schwein in der ‘chute’ kriegst, aus dem die Scheiße rausgeprügelt wurde und das einen Herzanfall hat oder sich verweigert sich zu bewegen, nimmst du einen Fleischhaken und hakst ihn in sein Arschloch (After) fest … und oft reißt der Fleischhaken aus dem Arschloch raus. Ich habe Schenkel gesehen die völlig aufgerissen waren. Ich habe auch gesehen wie Därme herauskommen.”

Und hier ist was die Tiere in der Tötungs-Stufe erwartet. Zuerst die Angaben von einem Pferdeschlachthausarbeiter: “Du bewegst dich so schnell, dass du hast keine Zeit hast zu warten, bis ein Pferd ausblutet. Du häutest ihn während er blutet. Manchmal ist die Nase von einem Pferd unten im Blut, bläst Blasen und er erstickt.”

Dann ein anderer Arbeiter, über die Kuhschlachtung: “Oft stellt der Häuter fest, dass eine Kuh immernoch bei Bewusstsein ist wenn er die Seite ihres Kopfes aufschneidet und sie wild zu treten anfängt. Wenn das passiert, … stößt der Häuter ein Messer in das Hinterteil ihres Kopfes um das Rückrad durchzuschneiden.” (Dies lähmt das Tier, aber beendet nicht die Schmerzen des lebendig Gehäutetwerdens.) Und noch ein anderer, über Kälber-Schlachtung: “Um schneller mit ihnen fertig zu werden, stellen wir jeweils acht oder neun von ihnen auf einmal in die ‘knocking box’… Du fängst an zu schießen, die Kälber springen, sie stapeln sich alle aufeinander. Du weißt nicht welche erschossen sind und welche nicht… Sie werden weggehängt, und so fahren sie die Reihe weiter, winden sich und schreien” (um geschlachtet zu werden, während sie bei vollem Bewusstsein sind).

Und über Schweine-Schlachtung: “Wenn das Schwein bei Bewusstsein ist, … braucht es eine lange Zeit für ihn, um auszubluten. Diese Schweine kommen zu dem Erhitzungs-Tank, treffen aufs Wasser und fangen an zu treten und zu schreien … . Da ist ein rotierender Arm der sie runterdrückt. Keine Chance für sie rauszukommen. Ich bin mir nicht sicher ob sie zu Tode verbrühen bevor sie ertrinken, aber sie brauchen ein paar Minuten um mit dem Treten aufzuhören.”

Die Arbeit fordert einen schweren emotionalen Tribut von den Arbeitern. Hier ist der Bericht eines Arbeiters: “Ich habe den Druck und die Frustration von meinem Arbeitsplatz an den Tieren, an meiner Frau, … und an mir selbst abgelassen und stark getrunken.” Dann wird es viel schlimmer: “… ein Tier das dich völlig abnervt, tötest du nicht einfach. Du … zerstörst die Luftröhre, machst, dass es in seinem eigenen Blut ertrinkt, spaltest seine Nase… Ich habe habe sein Auge rausgeschnitten … und dieses Schwein hat einfach geschrien. Einmal habe ich …. das Ende von der Nase von einem Schwein abgeschnitten. Das Schwein ist verrückt geworden, also nahm ich eine Handvoll Salzlake und hab sie in seine Nase gerieben. Jetzt ist das Schwein wirklich ausgeflippt … .”

Sicherheit ist ein wesentliches Problem für Arbeiter, die scharfe Instrumente bedienen, während sie auf einem Boden stehen der glitschig von den Blutmassen ist, umgeben von bei Bewusstsein seienden Tieren, die um ihr Leben treten, und unter dem Druck einer beschleunigenden Schlachtungsreihe. Tatsächlich ziehen sich 36 Prozent ernsthafte Verletzungen zu, was ihre Arbeit zu der gefährlichsten Amerikas macht. Arbeiter, die Behindert sind und solche die sich über Arbeitsbedingungen beschweren, werden gefeuert und häufig ersetzt durch nicht-registrierte Ausländer. Vor ein paar Jahren kamen 25 Arbeiter bei einem Feuer in einem Hühnerschlachthaus in Hamlet, North Carolina, ums Leben, weil die Betriebsleitung die Notausgänge verschlossen hatte um Diebstahl zu verhindern.

Hier ist der Bericht eines Arbeiters: “Die Bedingungen sind sehr gefährlich und Arbeiter sind für die Maschinen nicht gut ausgebildet. Eine Maschine hat eine schwirrende Klinge, in der sich die Leute verfangen. Arbeiter verlieren Finger. Die Brust von einer Frau hat sich in ihr verfangen und wurde abgerissen. Einer anderen ihr T-Shirt hat sich verfangen und ihr Gesicht wurde in sie hineingezogen.”

Obwohl Slaughterhouse auf ‘animal cruelty’ (Tierquälerei) und die Sicherheit der Arbeiter fokussiert, geht es auch die Fragen betreffend der Gesundheit von Konsumenten und in diesem Zug das Versagen des ‘federal inspection systems’ an. Die ergreifende Schilderung von der Mutter eines Kindes, das einen Hamburger gegessen hatte, der kontaminiert war mit E. coli, beschreibt: “Nach Briannes zweiter Not-Operation ließen die Chirurgen sie offen von ihrem Sternum bis zu ihrem Schambereich um ihren geschwollenen Organen Platz zu lassen sich auszudehnen, und so zu verhindern, dass sie sonst ihre Haut zerreißen würden … . Ihr Herz … blutete aus jeder Pore. Die Gifte brachten Briannes Leber und Bauchspeicheldüse zum Stillstand. Eine Insulin-Infusion wurde angebracht. Mehrere Male verfärbte ihre Haut sich wochenlang schwarz. Sie hatte eine Anschwellung des Gehirns, die die Neurologen nicht behandeln konnten … . Sie sagten uns, dass Brianne im Grunde Hirntod war.”

Slaughterhouse hat einige Schwachstellen. In einem Versuch die Zeitabfolge der Untersuchung zu reflektieren, leidet die Darstellung an schwacher Strukturierung und teilweise überflüssigen Einzelheiten. Aber dies ist so etwa, wie die Aussagen über meine Holocaust-Erlebnisse wegen meines polnischen Akzentes zu kritisieren. Das Hauptproblem steht nicht im Zusammenhang mit dem Inhalt des Buches, sondern mit dem Cover-Design des Verlegers. Der Titel und die geköpften Kadaver, die abgebildet sind auf dem Schutzumschlag, stellen in effektiver Weise sicher, dass das Buch nicht von einer breiten Leserschaft gelesen wird, und dass die schockierende Aussage darinnen nicht raus zur konsumierenden Öffentlichkeit durchdringen wird.

Und dies ist bedauernswert. Weil die zahllosen Tiere, deren Todesqualen das Buch so plastisch dokumentiert, verdienen, dass ihre Geschichte erzählt wird. Und weil Slaughterhouse das stärkste Argument für fleischloses Essen ist, das ich jemals gelesen habe. Eisnitz’s schließender Kommentar “Nun wissen Sie es, und Sie können helfen diese Gräueltaten zu beenden” sollte eine starke Warnung sein. Nach 25 Jahren der Arbeit über Farmtier-Fragen und der Leitung zahlreicher Demonstrationen gegen Schlachthäuser hat es mich tief betroffen gemacht. In der Tat hat das Lesen von Slaughterhouse mein Leben verändert.

A.d.Ü.: Die Neuauflagen des Buches verwenden ein anderes Coverdesign – nicht mehr das mit den aufgehängten Leibern.

Personen die dabei helfen möchten diese Information an die allgemeine Öffentlichkeit zu bringen, sollten FARM und die HFA kontaktieren. Falls notwendig, übernehmen wir genre die Kontaktaufnahme gerne für Sie.

Anastasia Yarbrough: Radikale Selbstfürsorge in Erwägung ziehen: Tierrechte – denn das Leben zählt.

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Farangis G. Yegane: left: Ma’at above the city; right: Io.

Anastasia Yarbrough

Radikale Selbstfürsorge in Erwägung ziehen: Tierrechte – denn das Leben zählt.

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Eine Präsentation gehalten bei: Neither Man Nor Beast: Patriarchy, Speciesism and Deconstructing Oppressions, eine Webkonferenz organisiert von Animal Liberation Ontario, Kanada, die am 23. Februar 2014 stattgefunden hat. Originaltitel: Contemplating Radical Self-Care: Animal Rights as if Life Matters. Übersetzung: Palang L. Arani-May, mit der freundlichen Genehmigung von Anastasia Yargrough.

Mike: Anastasia ist in den Bereichen: Tierrechte, soziale Gerechtigkeit und Umweltschutz seit über zehn Jahren tätig. Sie ist ein ehemaliges Vorstandsmitglied des Institute for Critical Animal Studies, gegenwärtig Mitglied des beratenden Gremiums des Food Empowerment Project und Fellow beim Centre for Whole Communities. Beruflich arbeitet sie in Ashville, North Carolina, an Projekten zur Förderung des ‚community empowerment’. […]

Anastaia: Hallo allerseits! Ich bin also hier um über die Möglichkeiten der radikalen Selbstfürsorge zu sprechen und der Titel meiner Rede ist: „Die radikale Selbstfürsorge in Erwägung ziehen: Tierrechte – denn das Leben zählt.“ Was mich dazu inspirierte diese Rede hier zu halten oder diese Konversation hier zu führen, darüber, was die radikale Selbstfürsorge für uns als Aktivist_innen bedeuten kann, auch in Hinsicht auf die Gemeinschaftsbildung, ist meine Erfahrung als Aktivistin, und im Speziellen ein Praktikum bei einem Schutzhof/Lebenshof und wie ich dort nach Unterstützung suchte, aber nicht wusste, wie ich in solch einem Raum danach fragen könnte.

Die Kultur des Schutzhofes bestand nicht darin, den Aktivist_innen in Sachen derer gegenseitigen Unterstützung zu helfen – auch nicht damit wir dadurch den Tieren vielleicht besser helfen könnten sich selbst helfen zu können – es war eher so, dass Gefühle überhaupt nicht zählten. Was auch immer du fühlen magst, du musst alles runterschlucken und „tun was für die Tiere zu tun ist, denn deren Leid ist viel größer als dein eigenes“. Dagegen ist nichts einzuwenden. Es ist schwer deine Gedanken zu kommunizieren, wenn dieser Art der Kommunikation einfach kein Raum gegeben wird. […]

Ich komme also aus dieser Richtung. Als ich mehr Aktivist_innen begegnete, die ähnliche Erfahrungen nicht allein in Schutz-/Lebenshöfen machten, sondern allgemein in Tierrechtsräumen, verstärke sich in mir der Eindruck, dass dies doch ein Thema ist, über das wir in den Tierrechten sprechen sollten. Was es also heißt uns selbst zu helfen, so dass wir damit auch anderen helfen können. Vor diesem Hintergrund betrachtet sollte klar werden, was ich hier mir ‚radikaler Selbstfürsorge’ meine.

Die radikale Selbstfürsorge und der Gedanke sozialer Gerechtigkeit verbindet eine lange gemeinsame Geschichte, die zurückgeht bis zur abolitionistischen- und zu der Anti-Sklavereibewegung des späten 18. und des frühen 19. Jahrhunderts. Es gibt ein Zitat von einer schwarzen Frau namens Mrs. Wittington, das, so finde ich, wirklich den Geist dessen erfasst, was die radikale Selbstfürsorge in der Bewegung sozialer Gerechtigkeit bedeutet:

Wir wollen leben, und nicht einfach nur so von Tag zu Tag existieren – so wie ihr oder irgendein Mensch es auch will.

Als Tieraktivist_innen können wir diesen Anspruch erweitern auf den Einbeschluss aller Lebewesen. Als Lebewesen wollen wir mit Würde leben, und ich denke, dass wir uns genau dafür einsetzten können – für diese Bedeutung der Würde, nämlich, dass das Leben über die bloße Subsistenz oder das von-Tag-zu-Tag-existieren hinausgeht. Das ist ein zentraler Punkt, und wir sollten dazu imstande sein, dass dies in unserem eigenen individuellen Leben für uns irgendwie fühlbar wird, damit wir das Bewusstsein in unsere aktivistische Arbeit in einer erweitert kreativen und informierten Art und Weise hineintragen können.

Es gibt noch ein anderes sehr schönes Zitat, und zwar von Helen Howard, das ziemlich bekannt ist und das ich wirklich liebe. Es geht um das Überleben und das glückliche Fortbestehen:

Wir kennen die Probleme und wir sehen sie, weil wir so dicht an ihnen dran leben. Wir wissen, dass wir ein Verantwortungsbewusstsein haben, und wir – einige von uns – haben versucht manche der Ziele, die wir selbst nicht erreichen konnten, der Kindern weiter zu vermitteln. Bin ich der-/diejenige, der/die nach meinem Bruder/meiner Schwester schaut? Ich? Ich muss es sein.

Ich finde dieses Zitat in seiner Bedeutung sehr wichtig, denn eine radikale Selbstfürsorge ist nicht nur eine Grundvoraussetzung zur Verbesserung der eigenen Lebensqualität, sie fördert uns auch als Individuen im Sinne einer aktiven Form der Selbstermächtigung.

In der Tierrechten musste ich mir das selbst beibringen, das sich selbst stark machen, um den Mut zu haben ‚da zu sein’, und ‚da zu sein’ wenn es drauf ankommt. Dessen bedarf sich die Zeit dafür zu nehmen und den Raum dafür zu schaffen, um auch nach mir selbst zu schauen zu können. Und dazu braucht es auch eine Gemeinschaft und eine Kultur, die dies unterstützt.

Eine andere Erweiterung der radikalen Selbstfürsorge existiert heutzutage auch in der Form spiritueller Praktiken, die sich mit den Gedanken sozialer Gerechtigkeit verbinden. Es gibt zahlreiche Organisationen und Gemeinschaften, innerhalb der Bewegungen für soziale Gerechtigkeit, die sich damit auseinandersetzten. Viele unterschiedliche spirituelle Praktiken, wie die Meditation, die Kontemplation, Yoga, Rituale, die auf traditionellen afrikanischen Religionen begründet sind, und andere traditionelle Praktiken, sind zu Werkzeugen der Selbstermächtigung für Einzelne und Gemeinschaften geworden. Ich würde auch so weit gehen, zu sagen, dass die radikale Selbstfürsorge ein Thema ist, das auch insbesondere in der Intersektionalität seinen Platz einnimmt – so wie bei Organisationen wie dem Food Empowerment Project, überhaupt innerhalb der Nahrungsmittelgerechtigkeitsbewegung, und auch in der Arbeit von Aktivistinnen wie Beispielsweise [von der Mitbegründerin des VINE Sanctuary] pattrice jones. Von diesem Punkt aus weitergehend will ich beschreiben, was die radikale Selbstfürsorge für die Tierrechte und für Tierrechtsaktivist_innen ganz spezifisch bedeuten kann.

pattrice jones hat vor vier oder fünf Jahren ihr Buch „Aftershock“ veröffentlicht – ich will es hier jetzt nicht im Detail beschreiben, aber es geht mir um etwas, das in diesem Buch steht, und ich empfehle jedem das Buch einmal zu lesen. Es ist ein optimales Werkzeug für Aktivist_innen, spezifisch für Tierrechtsaktivist_innen, um zu lernen, wie wir uns selbst dabei helfen können traumatische Erlebnisse zu verarbeiten – wie das Bezeugen von Bildern und Szenen der Gewalt, Folter und Verstümmelung oder ausgelöst durch die Arbeit in der Tierrettung. Dies ist harte Arbeit. Und zur emotionalen Unterstützung eignet das Buch ganz hervorragend. pattrice jones schreibt darin, und das gefällt mir sehr gut, dass „umso früher wir lernen, die Zeichen von Stress und Depression in uns selbst und bei anderen zu erkennen, und umso früher wir lernen daraufhin zu reagieren, umso stärker kann unsere Bewegung werden.“ In anderen Worten heißt das, wenn du anderen helfen möchtest, so musst du auch auf dich und deinen eigenen Körper achten.

Ich denke das ist ein sehr schönes Statement, indem nicht allein auf die Bewegung als eine kollektive Intention geschaut wird, sondern auch auf die Bewegung als eine Fähigkeit in unserem eigenen Leben, hinsichtlich dessen, wie wir aus eigener Kraft in unserer Welt navigieren, auf sie reagieren, wie wir uns selbst in unserer Welt behandeln, in den Räumen in denen wir uns befinden. Ich denke das ist eine außerordentlich wichtige Praxis für diese Bewegung, die so wichtig ist, wie die Bewegung selbst.

Ich umreiße dieses Thema hier nur und habe leider keine spezifischen Tipps umd Mittel dafür, wie man sich selbst am besten helfen kann und wie die radikale Selbstfürsorge genau auszusehen hätte. Ich möchte eher eine Konversation über dieses Thema halten, da es bislang nicht diskutiert wurde, und, ich möchte unserer Gemeinschaft einen Anstoß dazu geben, einmal darüber nachzudenken, und vielleicht sogar selbst kreative Ideen zu entwickeln, wie wir uns im Ganzen wirklich selbst schätzen lernen können, so dass dies auch eine gemeinschaftstiftende Wirkung haben kann.

Ich selbst sehe die radikale Selbstfürsorge für die Einzelne oder den Einzelnen als einen stark an die Gemeinschaft gebundenen Prozess. Was bedeutet, dass wir den Raum dazu auch wirklich haben sollten, und dass unsere Gemeinschaften hoffentlich stabil genug sind, damit solch ein Schauen nach-sich-selber dort auch eine entsprechend wichtige Funktionen einnehmen kann, statt bloß unangenehme Pflicht oder was gänzlich vernachlässigenswertes zu sein.

Radikale Selbstfürsorge heißt, dass uns unser Leben soviel bedeutet, dass wir begreifen, dass das Leben an und für sich etwas bedeutet. Leben – so, dass jedes Leben zählt. Die Gemeinschaft spielt in der Formung unseres Lebens eine wichtige Rolle und sie kann diesen Wert in uns stärken. Und, obwohl das ein ganz essentieller Punkt ist, und tatsächlich ein Bedürfnis für solch eine radikale Selbstfürsorge existiert, gehen wir diesen Dingen zumeist aber nicht nach. Es ist für uns Aktivist_innen schwer, hart an der Praxis unserer Prinzipien zu arbeiten, wenn wir keine Gemeinschaft haben, die uns darin unterstützt, und wenn wir niemanden haben, an den wir uns vertrauensvoll wenden können oder wenn wir keinen Raum der Teilhabe finden können.

Die radikale Selbstfürsorge gibt uns aber als Individuen die Stärke dazu, uns selbst helfen zu können, so dass wir damit letztendlich auch den Tieren dabei helfen können, sich zu helfen … . Es ist wirklich schwer „da zu sein“ für jemanden, wenn man selbst so erschöpft ist, dass man noch nicht einmal kooperativ mit den Mitaktivist_innen an Kampagnen arbeiten kann. Wir können keine Outreach-Arbeit machen oder vegane Aufklärungsarbeit betreiben, wenn wir dauerhaft unter Schock stehen bzw. zutiefst belastet sind durch all die Bilder und das ganze negative Feedback, das wir im Bezug auf die unfassbar dramatische Notlage der Tiere durch alle Institutionen hindurch erleben.

Damit also umgehen zu lernen und den Raum und die Zeit für eine radikale Selbstfürsorge als Gemeinschaft zu finden, stärkt uns Schritt für Schritt, als die Individuen die wir sind, damit wir so die Kraft, den Mut und die Würde in uns finden können, um einfach da zu sein und zu sagen: „Nein! Ich stehe hierfür auf und ich habe die Kraft das zu tun und es ist gut so. Ich weiß, dass wir uns in unseren Gemeinschaften gegenseitig unterstützen können und ich vertraue darauf.“

Am Aufbau unserer Gemeinschaft zu arbeiten und füreinander da zu sein, ist ein essentieller Teil der Anti-Oppressionsbewegung. Es ist einfach stressig und entmutigend sich mit Menschen zu umgeben, denen dein Wohl als Mit-Tier vollkommen egal ist. Es ist schwer jegliche Form der Arbeit gut zu vollbringen oder unser Leben zu transformieren, wenn wir ständig von anderen Mit-Aktivist_innen entmutigt werden, denen das alles egal ist oder die eine Haltung vermitteln, als ob es nicht in Ordnung wäre, dich als Mit-Tier zu unterstützen. Das darf nicht der Kanon der Tierrechtskultur sein. Es geht uns darum, den Tieren zu helfen, und solch eine Haltung wäre fatal rigide; es lähmt den Geist in solch einem disfunktionalen oppressiven Raum verfangen zu sein.

Ich stelle mir stattdessen eine vollkommen dynamische, tief-verbundene, sich erweiternde Tierbefreiungsbewegung vor, die Aktivist_innen in allen Räumen ihres Aktivismus unterstützt, gleich wo ihr Eintrittspunkt sich befindet – egal woher sie kommen. Die Leute dort abzuholen, wo sie sich gerade befinden und ihre Präsenz zuzulassen, sie echt und ganz sein lassen, während sie diese harte Arbeit vollbringen … und nicht nur immer mit uns befasst zu sein, während wir andere bei dieser schweren Arbeit gerade mal abwerten. Es ist wirklich eine schwere Arbeit.

Einfach da zu sein, seine Gegenwart zu zeigen und offen und ehrlich auf das zu reagieren, was wir jeweils in einem Moment gerade beobachten und erleben, offen und ehrlich auf den Schmerz zu reagieren und die furchtbaren Dinge die Tieren geschehen zu bezeugen, braucht den Mut mit diesen Gefühlen fertig zu werden. Es zertrümmert deinen Geist, das zu fühlen. Und es ist niemals genug, was du tun kannst. Oder ist es die Kultur in der wir uns befinden, die uns das Gefühl vermittelt, dass nichts genug sein kann, dass du letztendlich selbst nichts tun kannst, und dass deine Gefühle dabei eigentlich nicht zählen?

Ich würde also denken, dass solche eine persönliche Arbeit an einer radikalen Selbstfürsorge respektiert werden sollte, und nicht als sinnlos, als überflüssig oder als dem-Aktivismus-nicht-dienlich abgetan werden sollte – insbesondere dann, wenn es eben um Nichtmenschen und Tierrechte geht. Ich stelle mir unter solch einer radikalen Selbstfürsorge vor, dass Aktivist_innen dann wenn es drauf ankommt, die Energie und die Kraft haben sollten für die Tiere aufzustehen, da unsere Gemeinschaften oder die Tierrechtsgemeinschaften unterstützend und für-das-Leben-sorgetragend und das-Leben-bejahend sind – dann und dort, wo wir in kulturell und ökologisch nachhaltig-denkenden und -funktionierenden Gemeinschaften gedeihen und wachsen können. Gemeinschaften, die durch das eigene Beispiel zeigen, dass wir so leben können, dass alles Leben und jedes Leben zählt.

Ich möchte also diese Hoffnung für die radikale Selbstfürsorge hinausschicken, und hoffe, dass dies eine Konversation darüber anregen kann, so dass wir in solch einem Prozess voneinander lernen und Ideen dafür entwickeln können, wie wir dem Leben in den Tierrechten affirmativer gegenüberstehen können: Unseren eigenen Leben und dem Leben der anderen.

Meine Zusammenfassung für diese Präsentation endete mit der Frage: Wie navigieren wir den Sturm der Oppressionen und überstehen das Ganze in einem gesunden Zustand? Ich fände es gut wenn Ihr Euch mal darüber Gedanken macht, was es heißt „durch den Sturm der Oppressionen zu navigieren“, und, was es heißt dies „gesund zu überstehen“. Was ist Gesundheit? Ich will Euch sagen, was ich darüber denke und möchte diese Konversation gerne im Bezug auf diese beiden Punkte weiterführen. Wenn ich hier von „Gesundheit“ spreche, so meine ich die Gesundheit in einem eher ganzheitlichen Sinne. Du bringst Dein ganzes Selbst mit ein und Du bist gut. Du bist einfach gut! Du bist nicht von Selbstzweifeln zerfressen, Du bist ganz bei der Sache und bist dabei in einem gesunden Zustand – ich meine damit eine Art des Zustands der Entfaltung, ein „Erblühen“. Ich liebe den Begriff eines Zustands der Entfaltung (flourishing condition) und Ihr könnt das wie auch immer interpretieren, ich denke es ist eine schöne Art, das eigene Leben und die eigenen Lebenserfahrungen zu beschreiben – so wie etwa: „ich bin in einem blühenden Zustand!“

Stellt Euch also vor, wie wir, wenn wir in solch einer blühenden Verfassung sind, wie dann unser Bezug verläuft zu uns selbst, zu anderen Menschen, zu anderen Tieren, zur Umwelt und zum Raum im allgemeinen – letztendlich also zu unserer ganzen Gemeinschaft. Die radikale Selbstfürsorge wird dann zum fortwährenden Verhandeln und zum fortwährenden Austausch, als ein Weg dessen, wie wir uns in die Dinge einbringen können und wie wir auch wieder aus ihnen hinaustreten können. Wir können so, in unserer Beziehung zu uns selbst im jeweiligen Augenblick, unseren eigenen Takt finden. Wir sollten in unseren Beziehungen den Mut, die Würde und die Kraft besitzen, offen als „echter“ Mensch kommunizieren zu können – d.h. einfach als derjenige der man ist da zu sein, und nicht das Gefühl haben zu müssen, dass man sich hinter irgendjemandem verstecken oder Selbstzensur betreiben müsse.

Es geht um ein beinahe kompromissloses Mitgefühl, um Offenheit und Authentizität. Stellt Euch als Euer echtes Selbst vor, das Ihr wirklich seid und wie Ihr Eure Beziehung zu anderen Tieren herstellt. Wie Ihr durch sie gewinnt, in jedem Moment, ob in der faktischen Begegnung oder indirekt, durch Erlebnisse und Begebenheiten, die wir über sie untereinander kommunizieren: Nachrichten über sie, Geschichten, die von ihnen handeln oder was auch immer wir von ihnen bezeugen, was wir von ihnen vermittelt bekommen.

Das kommt von ihnen! Und die Gedanken, die ihr habt stammen also auch von ihnen. Die Wichtigkeit dies erkennen und differenziert erleben zu können, ist wichtig. Dabei müssen wir Geduld mit uns selbst dazu haben, eine noch bessere Verbindung einzugehen und noch genauer und tiefgründiger zu schauen, wo all diese unterschiedlichen Wesen denn eigentlich genau herkommen.

Die Geduld mit sich selbst ist sehr wichtig, und die Güte mit sich selbst, denn dies ist auch Teil Deiner Arbeit. Eure Beziehung zu eurer Umwelt und den Räumen, in denen ihr Euch bewegt, beinhaltet die allgemeine Beziehung zum Ort und wie wir mit unserer Umwelt umgehen – ob das in einer veganen Boutique ist oder bei uns zuhause, wir bewegen uns darin, leben darin. Unsere Beziehungen zu unseren Nachbarn, unsere Beziehungen überhaupt, unsere ökologische Beziehung zum Ort, drückt sich in der einen oder anderen Weise aus. Und zwar auf der ganzen Ebene.

Zu all dem als ganzes Wesen einen Bezug herzustellen, ist etwas Entscheidendes, für einen selbst, für die Mitmenschen und für die anderen Tiere, die ebenfalls an diesen Orten leben. Der Bezug muss positiv aufgebaut werden. Man sollte seine nichtmenschlichen Nachbarn eben so kennenlernen, jedes Individuum für sich, und alle und alles wiederum im Bezug zur ganzen Gemeinschaft. Und mit der ganzen Gemeinschaft meine ich wirklich die Interspezies-Gemeinschaft und die ökologische Gemeinschaft, „den Boden auf dem wir gehen“ quasi, so auch die Gemeinschaft, mit der wir vielleicht häufiger zusammen unsere Mahlzeiten teilen.

Übung spielt auch in diesem Zusammenhang eine Rolle, und zwar dabei, wie wir all die verschiedenen Aspekte unseres Lebens (das heißt auch unseres ganz individuellen Lebens) zusammenfügen, und dabei Schritt für Schritt durch diese Monströsität hindurch navigieren. Vielleicht sollte ich hier nicht von Monströsität sprechen, sondern davon, wie wir Unterdrückung navigieren und dabei immernoch uns selbst und unseren Beziehungen treu bleiben, ganz dabei bleiben, die Bodenhaftung nicht verlieren, die Echtheit und eine umfassende Liebe bewahren.

Das klingt vielleicht romantisch wenn ich das so sage, aber ich lerne mit dieser Art der Perspektive jeden Tag etwas darüber hinzu, wie ich in der Welt navigiere und mir dabei selbst als Aktivistin meine Kraft verleihe. Ich denke, dass die radikale Selbstfürsorge bedeutet, zu den Wurzeln des eigenen Ich zu finden und herauszufinden, was es ist, das wir brauchen um die Dinge zu überstehen und damit wir wachsen können. Sich in gegenseitigen, respektvollen, gerechten, liebenden Beziehungen mit anderen zu befinden, ist meiner Meinung nach eine Praxis, die sich von Tag zu Tag entwickelt. Ich denke es hilft, diese Geflechte als Praxis zu behandeln, um sich die Augeblicklichkeit dabei vor Augen zu halten und um dabei immer auch zu sehen, wie ich an jedem gegebenen Tag die Beziehung mit mir selbst und die Beziehung zu den anderen herstelle:

–         Bin ich einfach nur frustriert, bin ich wütend, betreibe ich ungerechtfertigte Anschuldigungen anderer, hab andere Leute satt oder versteh ich einfach nicht worum es gerade geht?
–         Wie stelle ich meinen Bezug zu anderen Tieren her?
–         Mit wem habe ich an diesem Tag in meinem Leben interagiert?
–         Weiß ich überhaupt, was mit den Tieren, mit denen ich in einer Gemeinschaft lebe, los ist?
–         Habe ich ein gutes Verhältnis mit meiner Home Base?
–         Was ist meine Beziehung mit der Umwelt und dem Raum gerade jetzt?
–         In welchem Bezug stehe ich zu dem Ort, an dem ich lebe, und wie gehe ich mit diesem Ort um, wie bewege ich mit an diesem Ort?
–         Wie ist meine Beziehung zur ganzen Gemeinschaft?
–         Fühle ich etwas, stehe ich in Verbindung? Fühle ich die Sonne auf meinem Gesicht?
–         Bin ich in Harmonie mit all meinen Bezugspunkten/Beziehungen?

Diese Art der Fragestellung hilft mir darin, mich zu suchen und zu finden, um mich daran zu erinnern, dass all dies Leben ist, und dass das Leben zählt.

Man kann als Aktivist_in nicht stark, empowered und in seiner Hilfeleistung effektiv sein, wenn man mit seinem Leben nicht im Einklang steht. Ich möchte daher abschließend nochmal diesen Punkt betonen und hoffe, dass wir verstärkt einen Dialog über die Wichtigkeit einer radikalen Selbstfürsorge als Praxis auf der individuellen Ebene, so wie auch auf der Gemeinschaftsebene, führen können. Es geht also um die Praxis der Kultivierung lebensbejahender Werte. Es reicht nicht aus, die Muster von Unterdrückung zu erkennen, dann aber keine Werkzeuge an der Hand zu haben oder keine ausreichende Bodenhaftung zu haben, um diese Problemkomplexe umfassender zu begreifen und in Konsequenz auf sie zu handeln. Ich denke diese Praxis kann uns dabei helfen, mit den konkreten, gegebenen Problemen im jeweiligen Moment in einer lebensbejahenden Art und Weise umzugehen.

Ich möchte meine Rede damit an dieser Stelle enden lassen. Ich denke ich habe genug gesagt. Die Diskussion über dieses Thema scheint mir in Hinsicht auf unsere Gemeinschaft wirklich wichtig. Ich würde daher nun gerne einige Eurer Fragen beantworten. Mike können wir zum Diskussionsmodus wechseln?

Mike: Ja sicher, das war toll. Danke Anastasia!

Frage 1: Hast Du den Eindruck, dass Deine Arbeit als Aktivistin, seitdem Du diese radikale Selbstfürsorge für dich anwendest, einfacher geworden ist? Und welche Phasen waren für Dich die schwierigsten?

Frage 2: Könnte man sagen, dass aktiv und informiert zu sein, an und für sich bereits eine Handlung radikaler Selbstfürsorge ist?

Zu der ersten Frage, ob dies mir emotional bei der Arbeit als Aktivistin geholfen hat, möchte ich sagen: Ja, in einem gewissen Maße hat es das. In dem Sinne, dass ich über die Zeit auf diese Weise mehr Widerstandsfähigkeit entwickelt habe, so dass ich genau darum Bescheid weiß, welche der schwierigen Hauptarbeitsschwerpunkte ich zu einem bestimmten Zeitpunkt angehen will, und dass ich auch den Mut dazu habe, die für mich damit verbundenen Problematiken mit anderen zu besprechen.

In anderer Hinsicht gibt es da schon noch Probleme. Viele Punkte, die ich hier angeschnitten habe, drücken Ziele und Ideale aus und entsprechen nicht so ganz dem, was wirklich geschieht – vor allen Dingen nicht auf der Gemeinschaftsebene.

Ich habe die Kraft einer radikalen Selbstfürsorge leider noch nicht innerhalb von Aktivist_innen-Gruppen erleben können. Und das ist mit der Zeit auch nicht leichter oder besser geworden. Die Aktivist_innen-Gruppen sind imemrnoch vorwiegend ein Raum der Rängeleien und des Konflikts, ohne dass sich jemals dabei vernünftige gemeinsame Lösungen finden würden. Das ist schon ermüdend und stellt eine eher unangenehme Herausforderung dar.

Was die zweite Frage betrifft, ob ich denke, dass Aktivismus und Informiertheit an erster Stelle überhaupt selbst eine Form der radikalen Selbstfürsorge darstellen? Vielleicht. Informiertheit in dem Sinne, dass man fähig ist und den Mut dazu hat, diesen Grad an Grausamkeit zu bezeugen; diese Art der Informiertheit, als eine aktive Form radikaler Selbstfürsorge … ich würde sagen, dass das definitiv ein Akt des vehementen Mitgefühls ist, aus der die radikale Selbstfürsorge lernt. Aber ich würde nicht sagen, dass es an sich schon eine komplette Art radikaler Selbstfürsorge ist. Die radikale Selbstfürsorge orientiert sich mehr an den Verläufen, an Prozessen und bedarf des Feedbacks im Sinne des: „Ich erhalte diese Information von der Welt und nun ist ‚radikale Selbstfürsorge’ das, wie ich darauf reagiere. Gehe ich einen Schritt zurück? Habe ich den Mut an dieser Stelle überhaupt Fragen zu stellen? Und wenn nicht, woraus besteht meine harte Arbeit eigentlich, oder was ist die Arbeit, die ich leisten müsste um mich damit sicherer zu fühlen, stärker, und um besser mit diesen Gefühlen umgehen zu können?“

Mit Gefühlen meine ich, dass wenn ich Handlung ergreifen will, zum Beispiel gegen den illegalen Handel mit wildlebenden Tierarten, aber das Problem ist so riesig und gigantisch, und die Bilder, die ich sehe sind so furchtbar und kaum zu ertragen, und ich höre niemals, dass etwas Gutes geschieht in der Sache – das überrollt einen einfach. Wenn ich dann nicht davon überzeugt bin, dass ich etwas auch von dort aus tun kann, wo ich gerade bin, dann sollte meine harte Arbeit nicht gerade an dieser Stelle zum Einsatz kommen. Der Akt der radikalen Selbstfürsorge ist, zu wissen, immer wieder zu evaluieren und zu re-evaluieren, wo mein Einsatz mich erwartet.