Anastasia Yarbrough: Radikale Selbstfürsorge in Erwägung ziehen: Tierrechte – denn das Leben zählt.

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Farangis G. Yegane: left: Ma’at above the city; right: Io.

Anastasia Yarbrough

Radikale Selbstfürsorge in Erwägung ziehen: Tierrechte – denn das Leben zählt.

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Eine Präsentation gehalten bei: Neither Man Nor Beast: Patriarchy, Speciesism and Deconstructing Oppressions, eine Webkonferenz organisiert von Animal Liberation Ontario, Kanada, die am 23. Februar 2014 stattgefunden hat. Originaltitel: Contemplating Radical Self-Care: Animal Rights as if Life Matters. Übersetzung: Palang L. Arani-May, mit der freundlichen Genehmigung von Anastasia Yargrough.

Mike: Anastasia ist in den Bereichen: Tierrechte, soziale Gerechtigkeit und Umweltschutz seit über zehn Jahren tätig. Sie ist ein ehemaliges Vorstandsmitglied des Institute for Critical Animal Studies, gegenwärtig Mitglied des beratenden Gremiums des Food Empowerment Project und Fellow beim Centre for Whole Communities. Beruflich arbeitet sie in Ashville, North Carolina, an Projekten zur Förderung des ‚community empowerment’. […]

Anastaia: Hallo allerseits! Ich bin also hier um über die Möglichkeiten der radikalen Selbstfürsorge zu sprechen und der Titel meiner Rede ist: „Die radikale Selbstfürsorge in Erwägung ziehen: Tierrechte – denn das Leben zählt.“ Was mich dazu inspirierte diese Rede hier zu halten oder diese Konversation hier zu führen, darüber, was die radikale Selbstfürsorge für uns als Aktivist_innen bedeuten kann, auch in Hinsicht auf die Gemeinschaftsbildung, ist meine Erfahrung als Aktivistin, und im Speziellen ein Praktikum bei einem Schutzhof/Lebenshof und wie ich dort nach Unterstützung suchte, aber nicht wusste, wie ich in solch einem Raum danach fragen könnte.

Die Kultur des Schutzhofes bestand nicht darin, den Aktivist_innen in Sachen derer gegenseitigen Unterstützung zu helfen – auch nicht damit wir dadurch den Tieren vielleicht besser helfen könnten sich selbst helfen zu können – es war eher so, dass Gefühle überhaupt nicht zählten. Was auch immer du fühlen magst, du musst alles runterschlucken und „tun was für die Tiere zu tun ist, denn deren Leid ist viel größer als dein eigenes“. Dagegen ist nichts einzuwenden. Es ist schwer deine Gedanken zu kommunizieren, wenn dieser Art der Kommunikation einfach kein Raum gegeben wird. […]

Ich komme also aus dieser Richtung. Als ich mehr Aktivist_innen begegnete, die ähnliche Erfahrungen nicht allein in Schutz-/Lebenshöfen machten, sondern allgemein in Tierrechtsräumen, verstärke sich in mir der Eindruck, dass dies doch ein Thema ist, über das wir in den Tierrechten sprechen sollten. Was es also heißt uns selbst zu helfen, so dass wir damit auch anderen helfen können. Vor diesem Hintergrund betrachtet sollte klar werden, was ich hier mir ‚radikaler Selbstfürsorge’ meine.

Die radikale Selbstfürsorge und der Gedanke sozialer Gerechtigkeit verbindet eine lange gemeinsame Geschichte, die zurückgeht bis zur abolitionistischen- und zu der Anti-Sklavereibewegung des späten 18. und des frühen 19. Jahrhunderts. Es gibt ein Zitat von einer schwarzen Frau namens Mrs. Wittington, das, so finde ich, wirklich den Geist dessen erfasst, was die radikale Selbstfürsorge in der Bewegung sozialer Gerechtigkeit bedeutet:

Wir wollen leben, und nicht einfach nur so von Tag zu Tag existieren – so wie ihr oder irgendein Mensch es auch will.

Als Tieraktivist_innen können wir diesen Anspruch erweitern auf den Einbeschluss aller Lebewesen. Als Lebewesen wollen wir mit Würde leben, und ich denke, dass wir uns genau dafür einsetzten können – für diese Bedeutung der Würde, nämlich, dass das Leben über die bloße Subsistenz oder das von-Tag-zu-Tag-existieren hinausgeht. Das ist ein zentraler Punkt, und wir sollten dazu imstande sein, dass dies in unserem eigenen individuellen Leben für uns irgendwie fühlbar wird, damit wir das Bewusstsein in unsere aktivistische Arbeit in einer erweitert kreativen und informierten Art und Weise hineintragen können.

Es gibt noch ein anderes sehr schönes Zitat, und zwar von Helen Howard, das ziemlich bekannt ist und das ich wirklich liebe. Es geht um das Überleben und das glückliche Fortbestehen:

Wir kennen die Probleme und wir sehen sie, weil wir so dicht an ihnen dran leben. Wir wissen, dass wir ein Verantwortungsbewusstsein haben, und wir – einige von uns – haben versucht manche der Ziele, die wir selbst nicht erreichen konnten, der Kindern weiter zu vermitteln. Bin ich der-/diejenige, der/die nach meinem Bruder/meiner Schwester schaut? Ich? Ich muss es sein.

Ich finde dieses Zitat in seiner Bedeutung sehr wichtig, denn eine radikale Selbstfürsorge ist nicht nur eine Grundvoraussetzung zur Verbesserung der eigenen Lebensqualität, sie fördert uns auch als Individuen im Sinne einer aktiven Form der Selbstermächtigung.

In der Tierrechten musste ich mir das selbst beibringen, das sich selbst stark machen, um den Mut zu haben ‚da zu sein’, und ‚da zu sein’ wenn es drauf ankommt. Dessen bedarf sich die Zeit dafür zu nehmen und den Raum dafür zu schaffen, um auch nach mir selbst zu schauen zu können. Und dazu braucht es auch eine Gemeinschaft und eine Kultur, die dies unterstützt.

Eine andere Erweiterung der radikalen Selbstfürsorge existiert heutzutage auch in der Form spiritueller Praktiken, die sich mit den Gedanken sozialer Gerechtigkeit verbinden. Es gibt zahlreiche Organisationen und Gemeinschaften, innerhalb der Bewegungen für soziale Gerechtigkeit, die sich damit auseinandersetzten. Viele unterschiedliche spirituelle Praktiken, wie die Meditation, die Kontemplation, Yoga, Rituale, die auf traditionellen afrikanischen Religionen begründet sind, und andere traditionelle Praktiken, sind zu Werkzeugen der Selbstermächtigung für Einzelne und Gemeinschaften geworden. Ich würde auch so weit gehen, zu sagen, dass die radikale Selbstfürsorge ein Thema ist, das auch insbesondere in der Intersektionalität seinen Platz einnimmt – so wie bei Organisationen wie dem Food Empowerment Project, überhaupt innerhalb der Nahrungsmittelgerechtigkeitsbewegung, und auch in der Arbeit von Aktivistinnen wie Beispielsweise [von der Mitbegründerin des VINE Sanctuary] pattrice jones. Von diesem Punkt aus weitergehend will ich beschreiben, was die radikale Selbstfürsorge für die Tierrechte und für Tierrechtsaktivist_innen ganz spezifisch bedeuten kann.

pattrice jones hat vor vier oder fünf Jahren ihr Buch „Aftershock“ veröffentlicht – ich will es hier jetzt nicht im Detail beschreiben, aber es geht mir um etwas, das in diesem Buch steht, und ich empfehle jedem das Buch einmal zu lesen. Es ist ein optimales Werkzeug für Aktivist_innen, spezifisch für Tierrechtsaktivist_innen, um zu lernen, wie wir uns selbst dabei helfen können traumatische Erlebnisse zu verarbeiten – wie das Bezeugen von Bildern und Szenen der Gewalt, Folter und Verstümmelung oder ausgelöst durch die Arbeit in der Tierrettung. Dies ist harte Arbeit. Und zur emotionalen Unterstützung eignet das Buch ganz hervorragend. pattrice jones schreibt darin, und das gefällt mir sehr gut, dass „umso früher wir lernen, die Zeichen von Stress und Depression in uns selbst und bei anderen zu erkennen, und umso früher wir lernen daraufhin zu reagieren, umso stärker kann unsere Bewegung werden.“ In anderen Worten heißt das, wenn du anderen helfen möchtest, so musst du auch auf dich und deinen eigenen Körper achten.

Ich denke das ist ein sehr schönes Statement, indem nicht allein auf die Bewegung als eine kollektive Intention geschaut wird, sondern auch auf die Bewegung als eine Fähigkeit in unserem eigenen Leben, hinsichtlich dessen, wie wir aus eigener Kraft in unserer Welt navigieren, auf sie reagieren, wie wir uns selbst in unserer Welt behandeln, in den Räumen in denen wir uns befinden. Ich denke das ist eine außerordentlich wichtige Praxis für diese Bewegung, die so wichtig ist, wie die Bewegung selbst.

Ich umreiße dieses Thema hier nur und habe leider keine spezifischen Tipps umd Mittel dafür, wie man sich selbst am besten helfen kann und wie die radikale Selbstfürsorge genau auszusehen hätte. Ich möchte eher eine Konversation über dieses Thema halten, da es bislang nicht diskutiert wurde, und, ich möchte unserer Gemeinschaft einen Anstoß dazu geben, einmal darüber nachzudenken, und vielleicht sogar selbst kreative Ideen zu entwickeln, wie wir uns im Ganzen wirklich selbst schätzen lernen können, so dass dies auch eine gemeinschaftstiftende Wirkung haben kann.

Ich selbst sehe die radikale Selbstfürsorge für die Einzelne oder den Einzelnen als einen stark an die Gemeinschaft gebundenen Prozess. Was bedeutet, dass wir den Raum dazu auch wirklich haben sollten, und dass unsere Gemeinschaften hoffentlich stabil genug sind, damit solch ein Schauen nach-sich-selber dort auch eine entsprechend wichtige Funktionen einnehmen kann, statt bloß unangenehme Pflicht oder was gänzlich vernachlässigenswertes zu sein.

Radikale Selbstfürsorge heißt, dass uns unser Leben soviel bedeutet, dass wir begreifen, dass das Leben an und für sich etwas bedeutet. Leben – so, dass jedes Leben zählt. Die Gemeinschaft spielt in der Formung unseres Lebens eine wichtige Rolle und sie kann diesen Wert in uns stärken. Und, obwohl das ein ganz essentieller Punkt ist, und tatsächlich ein Bedürfnis für solch eine radikale Selbstfürsorge existiert, gehen wir diesen Dingen zumeist aber nicht nach. Es ist für uns Aktivist_innen schwer, hart an der Praxis unserer Prinzipien zu arbeiten, wenn wir keine Gemeinschaft haben, die uns darin unterstützt, und wenn wir niemanden haben, an den wir uns vertrauensvoll wenden können oder wenn wir keinen Raum der Teilhabe finden können.

Die radikale Selbstfürsorge gibt uns aber als Individuen die Stärke dazu, uns selbst helfen zu können, so dass wir damit letztendlich auch den Tieren dabei helfen können, sich zu helfen … . Es ist wirklich schwer „da zu sein“ für jemanden, wenn man selbst so erschöpft ist, dass man noch nicht einmal kooperativ mit den Mitaktivist_innen an Kampagnen arbeiten kann. Wir können keine Outreach-Arbeit machen oder vegane Aufklärungsarbeit betreiben, wenn wir dauerhaft unter Schock stehen bzw. zutiefst belastet sind durch all die Bilder und das ganze negative Feedback, das wir im Bezug auf die unfassbar dramatische Notlage der Tiere durch alle Institutionen hindurch erleben.

Damit also umgehen zu lernen und den Raum und die Zeit für eine radikale Selbstfürsorge als Gemeinschaft zu finden, stärkt uns Schritt für Schritt, als die Individuen die wir sind, damit wir so die Kraft, den Mut und die Würde in uns finden können, um einfach da zu sein und zu sagen: „Nein! Ich stehe hierfür auf und ich habe die Kraft das zu tun und es ist gut so. Ich weiß, dass wir uns in unseren Gemeinschaften gegenseitig unterstützen können und ich vertraue darauf.“

Am Aufbau unserer Gemeinschaft zu arbeiten und füreinander da zu sein, ist ein essentieller Teil der Anti-Oppressionsbewegung. Es ist einfach stressig und entmutigend sich mit Menschen zu umgeben, denen dein Wohl als Mit-Tier vollkommen egal ist. Es ist schwer jegliche Form der Arbeit gut zu vollbringen oder unser Leben zu transformieren, wenn wir ständig von anderen Mit-Aktivist_innen entmutigt werden, denen das alles egal ist oder die eine Haltung vermitteln, als ob es nicht in Ordnung wäre, dich als Mit-Tier zu unterstützen. Das darf nicht der Kanon der Tierrechtskultur sein. Es geht uns darum, den Tieren zu helfen, und solch eine Haltung wäre fatal rigide; es lähmt den Geist in solch einem disfunktionalen oppressiven Raum verfangen zu sein.

Ich stelle mir stattdessen eine vollkommen dynamische, tief-verbundene, sich erweiternde Tierbefreiungsbewegung vor, die Aktivist_innen in allen Räumen ihres Aktivismus unterstützt, gleich wo ihr Eintrittspunkt sich befindet – egal woher sie kommen. Die Leute dort abzuholen, wo sie sich gerade befinden und ihre Präsenz zuzulassen, sie echt und ganz sein lassen, während sie diese harte Arbeit vollbringen … und nicht nur immer mit uns befasst zu sein, während wir andere bei dieser schweren Arbeit gerade mal abwerten. Es ist wirklich eine schwere Arbeit.

Einfach da zu sein, seine Gegenwart zu zeigen und offen und ehrlich auf das zu reagieren, was wir jeweils in einem Moment gerade beobachten und erleben, offen und ehrlich auf den Schmerz zu reagieren und die furchtbaren Dinge die Tieren geschehen zu bezeugen, braucht den Mut mit diesen Gefühlen fertig zu werden. Es zertrümmert deinen Geist, das zu fühlen. Und es ist niemals genug, was du tun kannst. Oder ist es die Kultur in der wir uns befinden, die uns das Gefühl vermittelt, dass nichts genug sein kann, dass du letztendlich selbst nichts tun kannst, und dass deine Gefühle dabei eigentlich nicht zählen?

Ich würde also denken, dass solche eine persönliche Arbeit an einer radikalen Selbstfürsorge respektiert werden sollte, und nicht als sinnlos, als überflüssig oder als dem-Aktivismus-nicht-dienlich abgetan werden sollte – insbesondere dann, wenn es eben um Nichtmenschen und Tierrechte geht. Ich stelle mir unter solch einer radikalen Selbstfürsorge vor, dass Aktivist_innen dann wenn es drauf ankommt, die Energie und die Kraft haben sollten für die Tiere aufzustehen, da unsere Gemeinschaften oder die Tierrechtsgemeinschaften unterstützend und für-das-Leben-sorgetragend und das-Leben-bejahend sind – dann und dort, wo wir in kulturell und ökologisch nachhaltig-denkenden und -funktionierenden Gemeinschaften gedeihen und wachsen können. Gemeinschaften, die durch das eigene Beispiel zeigen, dass wir so leben können, dass alles Leben und jedes Leben zählt.

Ich möchte also diese Hoffnung für die radikale Selbstfürsorge hinausschicken, und hoffe, dass dies eine Konversation darüber anregen kann, so dass wir in solch einem Prozess voneinander lernen und Ideen dafür entwickeln können, wie wir dem Leben in den Tierrechten affirmativer gegenüberstehen können: Unseren eigenen Leben und dem Leben der anderen.

Meine Zusammenfassung für diese Präsentation endete mit der Frage: Wie navigieren wir den Sturm der Oppressionen und überstehen das Ganze in einem gesunden Zustand? Ich fände es gut wenn Ihr Euch mal darüber Gedanken macht, was es heißt „durch den Sturm der Oppressionen zu navigieren“, und, was es heißt dies „gesund zu überstehen“. Was ist Gesundheit? Ich will Euch sagen, was ich darüber denke und möchte diese Konversation gerne im Bezug auf diese beiden Punkte weiterführen. Wenn ich hier von „Gesundheit“ spreche, so meine ich die Gesundheit in einem eher ganzheitlichen Sinne. Du bringst Dein ganzes Selbst mit ein und Du bist gut. Du bist einfach gut! Du bist nicht von Selbstzweifeln zerfressen, Du bist ganz bei der Sache und bist dabei in einem gesunden Zustand – ich meine damit eine Art des Zustands der Entfaltung, ein „Erblühen“. Ich liebe den Begriff eines Zustands der Entfaltung (flourishing condition) und Ihr könnt das wie auch immer interpretieren, ich denke es ist eine schöne Art, das eigene Leben und die eigenen Lebenserfahrungen zu beschreiben – so wie etwa: „ich bin in einem blühenden Zustand!“

Stellt Euch also vor, wie wir, wenn wir in solch einer blühenden Verfassung sind, wie dann unser Bezug verläuft zu uns selbst, zu anderen Menschen, zu anderen Tieren, zur Umwelt und zum Raum im allgemeinen – letztendlich also zu unserer ganzen Gemeinschaft. Die radikale Selbstfürsorge wird dann zum fortwährenden Verhandeln und zum fortwährenden Austausch, als ein Weg dessen, wie wir uns in die Dinge einbringen können und wie wir auch wieder aus ihnen hinaustreten können. Wir können so, in unserer Beziehung zu uns selbst im jeweiligen Augenblick, unseren eigenen Takt finden. Wir sollten in unseren Beziehungen den Mut, die Würde und die Kraft besitzen, offen als „echter“ Mensch kommunizieren zu können – d.h. einfach als derjenige der man ist da zu sein, und nicht das Gefühl haben zu müssen, dass man sich hinter irgendjemandem verstecken oder Selbstzensur betreiben müsse.

Es geht um ein beinahe kompromissloses Mitgefühl, um Offenheit und Authentizität. Stellt Euch als Euer echtes Selbst vor, das Ihr wirklich seid und wie Ihr Eure Beziehung zu anderen Tieren herstellt. Wie Ihr durch sie gewinnt, in jedem Moment, ob in der faktischen Begegnung oder indirekt, durch Erlebnisse und Begebenheiten, die wir über sie untereinander kommunizieren: Nachrichten über sie, Geschichten, die von ihnen handeln oder was auch immer wir von ihnen bezeugen, was wir von ihnen vermittelt bekommen.

Das kommt von ihnen! Und die Gedanken, die ihr habt stammen also auch von ihnen. Die Wichtigkeit dies erkennen und differenziert erleben zu können, ist wichtig. Dabei müssen wir Geduld mit uns selbst dazu haben, eine noch bessere Verbindung einzugehen und noch genauer und tiefgründiger zu schauen, wo all diese unterschiedlichen Wesen denn eigentlich genau herkommen.

Die Geduld mit sich selbst ist sehr wichtig, und die Güte mit sich selbst, denn dies ist auch Teil Deiner Arbeit. Eure Beziehung zu eurer Umwelt und den Räumen, in denen ihr Euch bewegt, beinhaltet die allgemeine Beziehung zum Ort und wie wir mit unserer Umwelt umgehen – ob das in einer veganen Boutique ist oder bei uns zuhause, wir bewegen uns darin, leben darin. Unsere Beziehungen zu unseren Nachbarn, unsere Beziehungen überhaupt, unsere ökologische Beziehung zum Ort, drückt sich in der einen oder anderen Weise aus. Und zwar auf der ganzen Ebene.

Zu all dem als ganzes Wesen einen Bezug herzustellen, ist etwas Entscheidendes, für einen selbst, für die Mitmenschen und für die anderen Tiere, die ebenfalls an diesen Orten leben. Der Bezug muss positiv aufgebaut werden. Man sollte seine nichtmenschlichen Nachbarn eben so kennenlernen, jedes Individuum für sich, und alle und alles wiederum im Bezug zur ganzen Gemeinschaft. Und mit der ganzen Gemeinschaft meine ich wirklich die Interspezies-Gemeinschaft und die ökologische Gemeinschaft, „den Boden auf dem wir gehen“ quasi, so auch die Gemeinschaft, mit der wir vielleicht häufiger zusammen unsere Mahlzeiten teilen.

Übung spielt auch in diesem Zusammenhang eine Rolle, und zwar dabei, wie wir all die verschiedenen Aspekte unseres Lebens (das heißt auch unseres ganz individuellen Lebens) zusammenfügen, und dabei Schritt für Schritt durch diese Monströsität hindurch navigieren. Vielleicht sollte ich hier nicht von Monströsität sprechen, sondern davon, wie wir Unterdrückung navigieren und dabei immernoch uns selbst und unseren Beziehungen treu bleiben, ganz dabei bleiben, die Bodenhaftung nicht verlieren, die Echtheit und eine umfassende Liebe bewahren.

Das klingt vielleicht romantisch wenn ich das so sage, aber ich lerne mit dieser Art der Perspektive jeden Tag etwas darüber hinzu, wie ich in der Welt navigiere und mir dabei selbst als Aktivistin meine Kraft verleihe. Ich denke, dass die radikale Selbstfürsorge bedeutet, zu den Wurzeln des eigenen Ich zu finden und herauszufinden, was es ist, das wir brauchen um die Dinge zu überstehen und damit wir wachsen können. Sich in gegenseitigen, respektvollen, gerechten, liebenden Beziehungen mit anderen zu befinden, ist meiner Meinung nach eine Praxis, die sich von Tag zu Tag entwickelt. Ich denke es hilft, diese Geflechte als Praxis zu behandeln, um sich die Augeblicklichkeit dabei vor Augen zu halten und um dabei immer auch zu sehen, wie ich an jedem gegebenen Tag die Beziehung mit mir selbst und die Beziehung zu den anderen herstelle:

–         Bin ich einfach nur frustriert, bin ich wütend, betreibe ich ungerechtfertigte Anschuldigungen anderer, hab andere Leute satt oder versteh ich einfach nicht worum es gerade geht?
–         Wie stelle ich meinen Bezug zu anderen Tieren her?
–         Mit wem habe ich an diesem Tag in meinem Leben interagiert?
–         Weiß ich überhaupt, was mit den Tieren, mit denen ich in einer Gemeinschaft lebe, los ist?
–         Habe ich ein gutes Verhältnis mit meiner Home Base?
–         Was ist meine Beziehung mit der Umwelt und dem Raum gerade jetzt?
–         In welchem Bezug stehe ich zu dem Ort, an dem ich lebe, und wie gehe ich mit diesem Ort um, wie bewege ich mit an diesem Ort?
–         Wie ist meine Beziehung zur ganzen Gemeinschaft?
–         Fühle ich etwas, stehe ich in Verbindung? Fühle ich die Sonne auf meinem Gesicht?
–         Bin ich in Harmonie mit all meinen Bezugspunkten/Beziehungen?

Diese Art der Fragestellung hilft mir darin, mich zu suchen und zu finden, um mich daran zu erinnern, dass all dies Leben ist, und dass das Leben zählt.

Man kann als Aktivist_in nicht stark, empowered und in seiner Hilfeleistung effektiv sein, wenn man mit seinem Leben nicht im Einklang steht. Ich möchte daher abschließend nochmal diesen Punkt betonen und hoffe, dass wir verstärkt einen Dialog über die Wichtigkeit einer radikalen Selbstfürsorge als Praxis auf der individuellen Ebene, so wie auch auf der Gemeinschaftsebene, führen können. Es geht also um die Praxis der Kultivierung lebensbejahender Werte. Es reicht nicht aus, die Muster von Unterdrückung zu erkennen, dann aber keine Werkzeuge an der Hand zu haben oder keine ausreichende Bodenhaftung zu haben, um diese Problemkomplexe umfassender zu begreifen und in Konsequenz auf sie zu handeln. Ich denke diese Praxis kann uns dabei helfen, mit den konkreten, gegebenen Problemen im jeweiligen Moment in einer lebensbejahenden Art und Weise umzugehen.

Ich möchte meine Rede damit an dieser Stelle enden lassen. Ich denke ich habe genug gesagt. Die Diskussion über dieses Thema scheint mir in Hinsicht auf unsere Gemeinschaft wirklich wichtig. Ich würde daher nun gerne einige Eurer Fragen beantworten. Mike können wir zum Diskussionsmodus wechseln?

Mike: Ja sicher, das war toll. Danke Anastasia!

Frage 1: Hast Du den Eindruck, dass Deine Arbeit als Aktivistin, seitdem Du diese radikale Selbstfürsorge für dich anwendest, einfacher geworden ist? Und welche Phasen waren für Dich die schwierigsten?

Frage 2: Könnte man sagen, dass aktiv und informiert zu sein, an und für sich bereits eine Handlung radikaler Selbstfürsorge ist?

Zu der ersten Frage, ob dies mir emotional bei der Arbeit als Aktivistin geholfen hat, möchte ich sagen: Ja, in einem gewissen Maße hat es das. In dem Sinne, dass ich über die Zeit auf diese Weise mehr Widerstandsfähigkeit entwickelt habe, so dass ich genau darum Bescheid weiß, welche der schwierigen Hauptarbeitsschwerpunkte ich zu einem bestimmten Zeitpunkt angehen will, und dass ich auch den Mut dazu habe, die für mich damit verbundenen Problematiken mit anderen zu besprechen.

In anderer Hinsicht gibt es da schon noch Probleme. Viele Punkte, die ich hier angeschnitten habe, drücken Ziele und Ideale aus und entsprechen nicht so ganz dem, was wirklich geschieht – vor allen Dingen nicht auf der Gemeinschaftsebene.

Ich habe die Kraft einer radikalen Selbstfürsorge leider noch nicht innerhalb von Aktivist_innen-Gruppen erleben können. Und das ist mit der Zeit auch nicht leichter oder besser geworden. Die Aktivist_innen-Gruppen sind imemrnoch vorwiegend ein Raum der Rängeleien und des Konflikts, ohne dass sich jemals dabei vernünftige gemeinsame Lösungen finden würden. Das ist schon ermüdend und stellt eine eher unangenehme Herausforderung dar.

Was die zweite Frage betrifft, ob ich denke, dass Aktivismus und Informiertheit an erster Stelle überhaupt selbst eine Form der radikalen Selbstfürsorge darstellen? Vielleicht. Informiertheit in dem Sinne, dass man fähig ist und den Mut dazu hat, diesen Grad an Grausamkeit zu bezeugen; diese Art der Informiertheit, als eine aktive Form radikaler Selbstfürsorge … ich würde sagen, dass das definitiv ein Akt des vehementen Mitgefühls ist, aus der die radikale Selbstfürsorge lernt. Aber ich würde nicht sagen, dass es an sich schon eine komplette Art radikaler Selbstfürsorge ist. Die radikale Selbstfürsorge orientiert sich mehr an den Verläufen, an Prozessen und bedarf des Feedbacks im Sinne des: „Ich erhalte diese Information von der Welt und nun ist ‚radikale Selbstfürsorge’ das, wie ich darauf reagiere. Gehe ich einen Schritt zurück? Habe ich den Mut an dieser Stelle überhaupt Fragen zu stellen? Und wenn nicht, woraus besteht meine harte Arbeit eigentlich, oder was ist die Arbeit, die ich leisten müsste um mich damit sicherer zu fühlen, stärker, und um besser mit diesen Gefühlen umgehen zu können?“

Mit Gefühlen meine ich, dass wenn ich Handlung ergreifen will, zum Beispiel gegen den illegalen Handel mit wildlebenden Tierarten, aber das Problem ist so riesig und gigantisch, und die Bilder, die ich sehe sind so furchtbar und kaum zu ertragen, und ich höre niemals, dass etwas Gutes geschieht in der Sache – das überrollt einen einfach. Wenn ich dann nicht davon überzeugt bin, dass ich etwas auch von dort aus tun kann, wo ich gerade bin, dann sollte meine harte Arbeit nicht gerade an dieser Stelle zum Einsatz kommen. Der Akt der radikalen Selbstfürsorge ist, zu wissen, immer wieder zu evaluieren und zu re-evaluieren, wo mein Einsatz mich erwartet.

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