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Warum ich selbst pflegte

Ein weiteres Referat im Rahmen meiner abgebrochenen Ausbildung. Wir sollten in Form eines Interviews eine Pflegesituation darstellen, die wir für empfehlenswert halten würden. Ich entschied mich für die Angehörigenpflege. Dieses Referat kam mir sehr entgegen, da Angehörigenpflege mein Lieblingsthema im Bereich ‚Care‘ ist.

Warum ich selbst pflegte

Referat zum Thema: „Warum ich selbst Pflegte“ – Modelle des Pflegens – Angehörigenpflege / Zugehörigenpflege. Basierend auf einem Interview, dass ich mit Werner L., einem selbstpflegenden Angehörigen, führte.

Gita Yegane Arani, 2018

Einleitung

In diesem Interview stelle ich die Erfahrungen von Werner L. vor, der sich trotz eigener körperlicher Behinderung dafür entschied, sich in der Pflege seiner Familienangehörigen, soweit ihm das möglich war, aktiv einzubringen. Werner L. wohnte teilweise mit seinen Eltern zusammen um die Mutter bei der Pflege des schwer asthmakranken Vaters zu unterstützen. Später begleitete er gemeinsam mit seiner Mutter die Schwester der Mutter, seine Tante, im Endstadium ihrer Krebserkrankung. Zuletzt pflegte er seine Mutter, in den Phasen der leichten Pflegebedürftigkeit bis zur Sterbebegleitung. Werner L. sagt, dass ihm die Entscheidung, die Eltern selbst zu pflegen, eine wesentliche war und er in dem Prozess „gewachsen“ sei. Werner L. war damals ledig und hatte keine eigenen Kinder. Er arbeitet in einem technischen Beruf in Handwerk und Entwicklung.

Beweggründe: „Deshalb habe ich selbst gepflegt … “

Werner L. machte die ersten Erfahrungen in seinem Leben mit Pflegebedürftigkeit mit sich selbst als Betroffenem. Infolge eines schweren Autounfalls war er eineinhalb Jahre an den Rollstuhl gefesselt und musste zahlreiche wiederherstellende Operationen durchmachen. Mehrere Jahre nach dem Unfall konnte er wieder in sein normales Berufsleben eintreten. Inzwischen hatte sich aber das Befinden des Vaters, der sein Leben lang Former und Gießer bei einem traditionsreichen Metallunternehmen war, infolge seiner Berufstätigkeit, in der er ständig gesundheitsschädigenden Dämpfen und Feinstaub ausgesetzt gewesen war, verschlechtert. Das Asthma, unter dem der Vater zunehmend litt, schränkte dessen tägliches Leben zunehmends ein und letztendlich kam es zur unumkehrbaren schweren Pflegebedürftigkeit.

Werner L.s Mutter war zu der Zeit noch imstande dem Vater viel an pflegerischer Unterstützung selbst zu bieten, doch dem Sohn war es wichtig seine Eltern in dieser Phase zu unterstützen. „Ich wusste, was es bedeutet, pflegebedürftig zu sein und ich wollte meinen Eltern etwas zurückgeben.“ Der Arzt hatte zu dieser Zeit auch empfohlen, dass der Vater hinaus aus dem Ballungsgebiet in eine ländliche Gegend wegen der besseren Luft ziehen solle, wenn ihm das möglich wäre. So organisierte die Familie einen Umzug in eine ländliche Gegend Hessens. Schon zu der Zeit bahnte sich ein Konflikt mit den Geschwistern von Werner L. an. Ihnen war, so Werner L., die Pflegebedürftigkeit des Vaters lästig und wenn sie kamen hätte es oft Streit gegeben. Werner L. sagte, er wollte auch die Mängel in der Familie kompensieren, die durch das „rücksichtslose Verhalten“ der Geschwister im Familiengefüge entstanden waren.

Die Praxis des Pflegens Angehöriger: Helfen, aber wie? (Pflegepraxis, Umsetzung)

Werner L. merkte bald, dass er detaillierte Beratung für die Pflege des Vaters zuhause benötigte. Die Ärzte informierten ihn über Medikation, die Verabreichungsarten und was alles zu berücksichtigen sei. Werner L. sagt von den Ärzten und von der Lungenklinik, die er und sein Vater nun häufig aufsuchen mussten, hätten sie viel an Unterstützung und Expertise erfahren. Schlechte Erfahrungen machte Werner L. damals mit einem initial beauftragten Pflegedienst. Die Pflegerin habe den Vater „infantilisierend“ angesprochen, „als sei er ein Kleinkind“. Werner L. fragte die Pflegekraft, ob sie mit selbst mit ihrem eigenen Kind in der Art sprechen würde, und er entschied die Pflege, solange er das gemeinsam mit der Mutter stemmen könne, selber zu machen – ohne die Hilfe professioneller Pflegeeinrichtungen und Pflegedienste. Doch konstatiert Werner L. auch, dass er anfangs „wie ein Ochs vorm Berg“ gestanden hätte und ihm ganz basales Wissen und Tipps, insbesondere vom MDK und den Krankenschwestern, geholfen habe, was die alltägliche Pflegepraxis anbetraf. Er „stoppelte“ sich alles an Informationen was er ringsum bekommen konnte zusammen, von allen Instanzen denen er im Kontext mit der Pflegebedürftigkeit seiner Vaters begegnete. Der MDK und die Krankenkassen, sagt er, hätte ihn aber auch am ehesten eine Einweisung in ein Pflegeheim nahegelegt, im Falle sowohl seines Vaters als auch seiner Mutter dann später. Er lehnte diesen Schritt für sich ab und er wusste, dass seine Eltern auch nicht „von Fremden“ gepflegt werden wollten.

Die Finanzierung der Angehörigenpflege, Ressourcen und Hilfsmittel

Die finanziellen Ressourcen hätten, was die Pflegehilfsmittel anbetrifft, nicht wirklich gereicht. Das Finanzielle war aber auch nicht der Grund, warum Werner L. ein Pflegeheim als Alternative abgelehnt hatte. Um sich im Bezug auf die Hilfsmittel zu helfen, baute Werner L. mehrere Utensilien für die Barrierefreiheit im Haus der Eltern selbst, „teils gibt es auf dem Mark auch nicht genau das, was du brauchst“. Pflegegeld habe er nur später bei der Pflege seiner Mutter beantragt, denn bei ihr machte er 14-24 Stunden 7 Tage die Woche Pflege. Hilfsmittel wurden auch über die Krankenkasse und den Arzt beschafft.

Zeitmanagement

Was alles an Pflegetätigkeiten anfiel und was er alles für seinen Vater tat, frage ich Werner L.. Er wusch den Vater, reichte ihm an, renovierte das Haus innen und außen, kümmerte sich um die Besorgung und die Verabreichung der Medikamente, brachte den Vater zum Arzt und häufig ins Krankenhaus. Er wollte, so gut es ging, dem Vater eine soziale und körperliche Stütze sein. All das konnte er nur soweit verwirklichen, wie sein eigenes Zeitmagagement das zuließ, da Werner L. zu dieser Zeit voll berufstätig war. Wäre seine Mutter nicht da gewesen und man hätte sich die Pflege geteilt, wäre alles in der Form nicht möglich gewesen.

Wahrnehmung von Pflegebedürftigkeit (und daraus resultierende Konflikte in der erweiterten Familie)

Auch seine Tante, die Schwester seiner Mutter, pflegte Werner L. gemeinsam mit seiner Mutter, da der eigene Ehemann und sie Söhne der Tante ihren Fall nach dem dritten Rezidiv ihres Brustkrebses aufgegeben hatten. Der Brustkrebs hatte nun ins Gehirn gestreut, und so litt Werner L.s Tante nun an einem sekundär durch die Metasthasen bedingten Hirntumor, der nicht mehr operabel oder heilbar war. Werner L. und seine Mutter besuchten die Tante täglich im Krankenhaus, fast ein Jahr lang. Durch die Metastasen kam es zu Wesensveränderung, der kognitive Zustand der Tante war beeinträchtigt. Werner L. sagt, insbesondere dies sei ein Umstand gewesen, mit dem der Ehemann und die Söhne seiner Tante sich nicht auseinandersetzen wollten oder konnten. Werner L. besteht auf die Wichtigkeit, einen Menschen immer in seiner vertrauten Art und Weise anzusprechen, ihm nichts an Wahrnehmungskapazitäten abzusprechen, selbst wenn der andere sich kognitiv nicht mehr wie vorher äußern könne. „Jede Phase ist wertvoll,“ sagt Werner L. Auch im Falle der Tante übernahmen Werner L. und seine Mutter gemeinsam Aspekte der Körperpflege, der Förderung des körperlichen Wohlbefindens und soziale und seelische Unterstützung.

Wichtig war Werner L., dass es in der Bewältigung und dem Umgang mit der Situation eigentlich keine „absolute Demarkationslinie“ zwischen Pflegebedürftigen und Pflegendem gegeben hätte, sondern dass ein permanenter Austausch zwischen den Beteiligten stattgefunden hätte, indem immer wieder Pflegender wie Pflegebedürftiger gemeinsam schauten, was der Pflegebedürftige in dem Moment brauchen könnte und was der Pflegende dazu einbringen kann. Zwischen beiden Seiten müsse eine kommunikative Harmonie hergestellt werden, dies vermisse er zum Teil in den Pflegeeinrichtungen/-diensten, die er bisher im engeren und erweiterten Kreise kennengelernt habe.

Damals hatte Werner L. immer noch den sozialen Halt durch seine Mutter. Gemeinsam konnte man über alle Probleme sprechen, die man vom pflegebedürftigen Familienmitglied fernhalten wollte und musste, um diesen nicht unnötig und überfordernd zu belasten. Wenige Jahre später, nach dem Tod von L.s Vater und Tante, kam es bei Werner L.s Mutter aber nun auch zu gesundheitlichen Einbußen, zu einem operativen Eingriff, bei dem ein Fehler gemacht wurde und zu einer schleichenden aber unaufhaltsamen Zunahme an Pflegebedürftigkeit.

Die Konflikte innerhalb der Kernfamilie wurden schlimmer und belasteten Werner L. und seine Mutter. Werner L. sagt, er habe ähnliches auch von Freunden gehört, dass in Familien in der Regel nicht allein Pflegebedürftigkeit als zunehmender „Abbau an Fähigkeiten“ gleich einem Manko beurteilt würde, sondern, dass damit oft auch eine Art Abwertung der ganzen Historie und derer Kontinuität bei einer Person betrieben würde. Man sähe den Zustand des Alterns als eine Art „Verfall“, im negativ konnotierten Sinne. Die Solidarität fiele dabei letztendlich flach.

Entscheidungsfindungen in schwierigen Situationen

Werner L. und seine Mutter entschieden sich diese Phase gemeinsam durchzustehen und zusammen für sich anzunehmen. Werner L. suchte zu dem Zeitpunkt auch eine gemeinsame Wohnung, in die er hätte mit seiner Mutter wohnen wollen, denn er war zwischenzeitlich in die Nähe seines Arbeitsplatzes gezogen. Er hat bereits eruiert, wie ihm sein Netzwerk an Freunden bei der Pflege der Mutter helfen könnte. Der Zustand der Mutter verschlechterte sich aber sehr plötzlich. Sie war über einen Monat im Krankenhaus, zuletzt in der Intensivstation. In jeder Phase ihrer Pflegebedürftigkeit begleitete Werner L. seine Mutter. Auch im Krankenhaus übernahm er soviel Aufgaben wie möglich um ihr Geborgenheit und Sicherheit zu geben.

Besonders in den Phasen der Pflegebedürftigkeit seiner Mutter war Werner L. mit der Frage konfrontiert, ob ein Pflegeheim oder eine dauerhafte Begleitung durch einen ambulanten Pflegedienst zukünftig in Frage kommen würde. Seitens der medizinischen Instanzen und Einrichtungen (Ärzte, Krankenhäuser und Krankenkassen) wurde ihm dieser Weg immer wieder empfohlen. Für die Entscheidung zur häuslichen familiären Pflege erhielt er nur seitens seiner Freunde Zuspruch und Unterstützung. Er und seine Mutter machten nochmal einen Versuch mit einer ambulanten Pflege und auch wurde seine Mutter über drei Wochen in einer geriatrischen Kurzzeitpflege untergebracht, innerhalb eines Krankenhauses nach einem operativen Eingriff. Beide Erfahrungen waren aus Sicht von Werner L. und seiner Mutter nicht produktiv und für die Mutter emotional belastend. Der Druck, der seitens solcher Institutionen latent ausgeübt wird, sei jedoch immens. So würde bei älteren Patienten oft eine Überweisung in eine Pflegeeinrichtung oder eine Versorgung durch einen ambulanten Pflegedienst empfohlen, auch wenn die Alternative familiärer Unterstützung deutlich von den Angehörigen vorgetragen wird. Man scheine das den Menschen manchmal nicht zuzutrauen. Es sei schwierig, so Werner L., und vieles sei eine Zerreißprobe, aber man könne es gemeinsam schaffen.

Werner L. begleitete seine Eltern und seine Tante im Sterbeprozess. Alles, so sagt er, seien gemeinsam gegangene Schritte gewesen, an denen er gewachsen sei. Er sei froh, dass er eine klare Entscheidung bezüglich dieser Fragen im Leben getroffen habe, und auch, entgegen zahlreicher Widerstände, danach gehandelt habe.

Fazit

Nach der Theorie des systemischen Gleichgewichts von M.L. Friedemann ist das Ziel der Pflege „der Prozess, der das Streben nach Kongruenz im System erleichtert und ermöglicht“. [1] Das Ziel des Empfängersystems ist die Gesundheit. Ohne Kongruenz gerät die Balance im sozialen System der Gemeinschaft und beim Einzelnen aus dem Lot, auch im Bezug auf die Gesamtumwelt. Bei Werner L. findet ein kontinuierliches Austarieren verschiedener beeinflussender Faktoren statt. Bemühungen werden erkennbar kongruente Verhältnismäßigkeiten anzustreben zur Stabilität, zum Wachstum – zur Regulation/Kontrolle und wegen der Spiritualitätsaspekte, wie sie Friedemann in ihrem Modell des systemischen Gleichgewichts als Achsen der Balance beschreibt. Im Sozialgefüge von Werner L. werden zugleich aber auch, als auf das System der Kernfamilie schädigend wirkend empfundene Einflüsse bewusst abgegrenzt, und es wird ein als befriedend empfundener Rahmen hergestellt, innerhalb umgebender spannungsreicher Konfliktfelder (die sich auf das System mit auswirken). Die soziale Ebene des Systems wird erweitert, indem statt Angehörige auch Zugehörige bewusst mit wahrgenommen und einbezogen werden.

Durch das Ziel der Herstellung und des Erhalts einer Balance des sozialen Systems, unter Berücksichtigung der Bedürfnisse der pflegebedürftigen Beteiligten, wird im Falle Werner L.s der Versuch unternommen, die Gesundheit der Einzelnen als ganzheitlichen Prozess anzustreben. Es wird aber auch kennzeichnenderweise eine Grenze gezogen, zwischen als schädigend und als förderlich empfundenen Einflussfaktoren. Erfahrungen körperlicher Pflegebedürftigkeit als Leidensfaktoren, die des konstruktiven Umgangs bedürfen, und die Limitiertheit in der Stärke des Einzelnen, die sich daraus entwickelnden Probleme aufzufangen, prägen das Bild. Dennoch gelingt es den Beteiligten ihren Weg in ihrem selbst gestalteten System zu gehen und die ganzheitliche Gesundheit erfährt ein erlebtes Wachstum zugunsten der Kohärenz des Gefüges.

Auch kommt in dem Fall von Werner L. eine Bedeutsamkeits- und Sinnhaftigkeitskomponente in seinem Kohärenzgefühl zu tragen, das er aus seiner familiären Struktur schöpft: Tun, Biographie und Leben werden als sinnvoll betrachtet. Die Aufgaben die L. lösen will, sind es wert, die nötige Energie dafür aufzubringen, auch unter dem Risiko es könnte etwas schief gehen. Das Leben lohnt sich und das Risiko wird auf sich genommen. Die Komponente der „Sinnhaftigkeit“ gilt unter den drei Komponenten des von Antonovsky definierten Kohärenzgefühls (in seinem Modell des Salutogenese) als wichtigstes Element. [2] und das Kohärenzgefühl eines Menschen hat wechselseitige Auswirkungen auf dessen generalisierte Widerstandsressourcen [3], die Antonovsky als Voraussetzung für eine erlebte Gesundheit beschrieben hat.

Quellen

[1] Friedemann, M.L., Die Theorie des systemischen Gleichgewichts, o.J., http://faculty.fiu.edu/~friedemm/DieTheoriedesSystemischenGleichgewichts2.htm, Stand 7.3.18.

[2] Bengel J. et al., Was erhält Menschen gesud= Antonovskys Modell der Salutogenese – Diskussionsstand und Stellenwert, 2001, S. 143, http://kurse.fh-regensburg.de/kurs_20/kursdateien/L/SalutogeneseBZgA.pdf , Stand 7.3.18.

[3] Vgl. ebd. S. 145.

 

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