Totenglocke – PA sampling 1
Jenseits allen Maßes
Es gibt Formen des Denkens, die riecht man quasi, bevor man sie ganz versteht. Sie kommen als Sprache daher – als Witz, als Meinung, als beiläufige Bemerkung – und hinterlassen ein Echo aus Ekel und Erschöpfung. Gemeint sind jene gedanklichen Konstrukte, die sich als „natürliche Männlichkeit“ gerieren. Fixiert auf Phallus, Kontrolle, Abgrenzung. Es sind keine individuellen Fehlgriffe – es sind kollektive Muster. Und sie sind alt. Zäh. Immer noch dominant.
Diese Männlichkeitsbilder, gleich ob aus der Proll-Ecke oder mit akademischer Rhetorik getarnt, kreisen um dieselbe Leerstelle: den Versuch, Unsicherheit zu maskieren. Es ist ein Abwehrzauber gegen das Weiche, das Ambivalente, das Nicht-Kontrollierbare. Die Idee eines „echten Mannseins“ wird zur Verteidigungslinie gegen das Lebendige – gegen alles, was sich nicht vermessen lässt.
Doch diese Denkweise beschränkt sich nicht auf nur die eine geschlechtliche Identität. Man findet sie auch bei etlichen Frauen, jenen, die sich dem gleichen Geist zugehörig fühlen: dem Geist, der der Welt nicht begegnet, sondern sie benutzt. Es ist eine Geisteshaltung, die über der Natur zu stehen sucht, statt Teil von ihr zu sein. Die Mitwelt – Tiere, Pflanzen, Körper, anderer Geist aber auch andere Menschen selber – werden zu einem Werkzeugkoffer zurechtintepretiert. Was zählt, ist Funktion, Nutzwert, Kontrollierbarkeit.
Und genau da liegt der Kern: Es geht in Wirklichkeit nie nur um Geschlecht. Es geht um das Verhältnis zur Welt. Die Art, wie jemand spricht, berührt, denkt – sie verrät, ob da ein Wesen lebt, das sich verbunden weiß, oder eines, das sich in Dominanzbegriffen abgrenzt, erhebt, instrumentalisiert.
Inmitten all dessen wird es schwer für diejenigen Männer, die anders fühlen. Für Männer, die keine Lust haben auf Mackergehabe, auf Dauerpräsenz, auf das Rollenspiel des dominanten Subjekts. Ihnen fehlt der Raum – weil andere Männer ihn zuscheißen mit Gebrüll, Gehabe und Kalkül. Und weil die gesellschaftlichen Codes noch immer jene belohnen, die sich über Allmachtsansprüche und -wünsche definieren, statt über Tiefe und Sinn.
Was es braucht, ist eine Emanzipation, die tiefer geht. Keine neue Pose, kein Etikettenwechsel, sondern ein echter Ausstieg. Ein Sich-Lösen aus den geerbten Normalitäten, aus den reflexhaften Denkmustern, die Menschsein auf Verhalten und Verwertbarkeit reduzieren. So eine Emanzipation kann nicht über den Mainstream laufen. Sie wird keinen Applaus bekommen. Und das ist gut so. Denn sie sucht keine Bestätigung, sondern ganz im Gegenteil, sie sucht Wahrheit, die den Ausbruch nunmal mit sich bringt.
Jenseits der bekannten Muster existieren andere Formen. Ein Mannsein, das nicht im Machtraum sein muss. Ein Frausein, das sich nicht mehr definieren lassen wird. Und ein Dazwischensein, das nichts erklären muss. Sie existieren bereits – im Abseits, aber da. Man erkennt sie an der Haltung: zur Welt, zu anderen, zu sich selbst.
Wer hinsieht, wer hinhört, merkt schnell: Es geht nicht um Geschlecht. Es geht um die Haltungen zu den Dingen. Und dabei darum, aus dem System der Kontrolle auszutreten – geistig, emotional, politisch.
Das eigene Maß ist auffindbar, jenseits der Rollen, jenseits von Erwartung, Vorurteil und Anspruch.
Man sollte sich nicht mehr in jene Denkgruben ziehen lassen, in denen Lebendigkeit erstickt. Dieser Schritt ist für die, die ihn nicht tun noch unbequemer, als die, die in tun werden. Wer ihn geht, lebt vielleicht – endlich – wirklich.
Entwurf, 31.05.25, 2