Ein unglaubwürdiger Gemeinsinn: Was ist beleidigend?

Ein unglaubwürdiger Gemeinsinn: Was ist beleidigend?

Ist die Regelung, dass Politiker*innen einen Sonderstatus in Sachen „ein-Recht-zum-Schutz-vor-Beleidigung-haben“ nicht irgendwie elitistisch gedacht? ( … )  Angesichts des Maßes an Beleidigung Schrägstrich Diskriminierung, mit dem sich insbesondere Betroffene von wenig oder bislang gar nicht anerkannter und benannter Diskriminierungsformen auseinandersetzen müssen, ohne auf irgendein Recht oder moralisches Tabu pochen zu dürfen. Zu behaupten, alle Wege, wie Menschen diskriminieren und irgendwelchen Destruktivitäten ihren freien Lauf lassen, seien benannt und offen kritisierbar, erscheint mir unglaubwürdig und zumindest scheinnaiv.

Wir haben allerhand unangreifbare Eliten, denen ein gewisser Sonderstatus zufällt, der sie aus dem Sumpf menschlicher Gehässigkeiten herausnehmen soll, weil unsere Gesellschaft sich so begreift, dass die Integrität eines Menschen aus einer systemrelevanten Elite wichtig ist, und dieser Menschen in seinen Funktionen wichtiger ist bzw. sei, als ein Mensch der beispielsweise durch einen sozialdarwinistisch herbeigeführtem Klassismus, erwirkt genau durch unsere Systeme, in eine völlige materielle Armut katapultiert wurde.

Genau durch unser System generieren wir Legitimationen, die dazu dienen ein Unrecht an anderen als akzeptabel zu beschreiben und in seinen sozialen Dimensionen kleinzureden. So ist die Beleidigung eines systemrelevanten Gutmeinenden in seinem Handeln als legitim erscheinenden Funktionsträgers im Bereich Politik zu ahnden, während es normal ist, dass Situationen, die das Leben für alle bereit hält, so ungerecht sein können, dass von Beleidigung hier noch nicht mal mehr die Rede sein wird.

Dein Status als „Mensch ohne relevante Funktionen“ kann jeglicher Übergriffigkeit durch andere Menschen in unseren gesellschaftlichen Geflechten und Normalitäten preisgegeben werden, ohne dass Deine Beschwerde über solch eine Situation überhaupt als „beleidigend“ kritisiert werden könnte. Denn leben wir nicht unter Menschen in vernünftigen, wohlmeinenden Gemeinschaften, die zu Recht nur die ehrbaren ganz besonders achten?

Nur wie soll der Grundsatz der Würde vom Menschen allein repräsentativ funktionieren, wenn dieser Grundsatz – als Ausruf eines Ideals vielleicht – mehr als Befehl zu verstehen ist, einfach weil dabei weniger an grundsätzlicher moralisch-ethischer Einsicht, die ein Selbstverständnis spiegeln könnte, vermittelt wird, als eine optionale Ungleichbehandlung vor dem Grundsatz her?

Das Problem von Angriffen auf menschliche Integrität ist nicht allein, dass viele Ebenen der Zersetzung von Würde überhaupt „kein Thema“ sind, das Problem ist zeitgleich auch, inwieweit die Vorstellung einer Mehrheit „zu leben“, die Vorstellungen von einigen Minderheiten völlig zunichtemachen kann. Eine verbale Beleidigung ist dagegen noch fast Luxus.

Was ist mit der tagtäglichen und global gleichmäßig verteilten Konfrontation mit den Massen, die nach dem Motto „Ich verwirkliche mich so, dass du dabei den Kürzeren ziehen wirst“ zu leben scheinen?

Ich denke da an krassen Konsumerismus und dabei ganz besonders an das grassierende Problem zeitgenössischer Betonarchitektur beispielsweise ganz konkret. Wenn eine Vorstellung einer beachtlich großen Gruppe von Menschen, den Lebensraum für alle in der Art bestimmt, in ihrer Übereinkunft darin, dass eben z.B. Betonarchitektur völlig akzeptabel und ein gangbarer Weg in der Wohnungsbaupolitik ist – und alles was damit üblicherweise an Lebensraumgestaltung einhergeht – ist das etwas, was aus meiner Perspektive ein Angriff auf andere, umweltfreundlichere Lebensformen beinhaltet.

Die Fakten, vor die man gesetzt wird, sind in unseren Gesellschaften heute nicht kritisierbar, ohne auf Unverständnis und Missachtung solch einer Sichtweise zu stoßen. Die Art der Argumente für die Betonbauwirtschaft und die grassierende Akzeptanz für den so geschaffenen Wohnraum werden dir als Kritiker kaum eine Chance geben, ein Streitgespräch über das Thema integer zu verlassen.

Die Lebensform demokratierelevanter Mehrheiten kann sehr wohl auch ein Angriff auf die Integrität und Würde anderer sein.

Unter diesem Gesichtspunkt sehen wir Konflikte unterschiedlicher Positionen in der Gesellschaft eher nicht: Wir gehen – um am Beispiel des Umweltschutzes zu bleiben – davon aus, dass, da ja es um „das Wohl aller“ beim Umweltschutz ginge, wir so logischerweise immer eine Lösung, die für eine Mehrheit nachvollziehbar sein muss, finden werden. Dass ein Konsens sich aus dem Eigeninteresse der Menschheit quasi ergibt.

Das ist aber bei wohl keinem Thema zwingendermaßen so. Und so diskutieren wir über den Umweltschutz niemals so differenziert und immer nur so „mehrheitsfähig“, dass am Ende ein Schritt in eine vermeintlich vernünftige Richtung zum Schluss nurnoch gut dargelegtes Greenwashing und hegemonial-anthropozentrische Hirnakrobatik hervorbefördert.

Denn was – um beim Beispiel zu bleiben – wenn unser System im Punkte: Konsum, Wirtschaftswachstum, Baubranche, dem „Weg vom klassischen Handwerk“, beim Produktions-  und Neuwarenfetischismus, dem endlosen Komplex wie Umwelt kaputt gemacht wird und wie aus Umwelt anthropogene Masse wird, einige zentrale Achsen unseres Systems anbetreffen?

Dass sich heute Umweltschutz auf die Fahnen schreibt, wer trotzdem selbstgerecht in diesen Mechanismen hängen bleibt, ist auch eine massive Form der Untergrabung und Unterhöhlung von Fragen thematischer ganzheitlicher Integrität.

Menschliche Diskriminierung und persönliche Beleidigung ist nicht einfach eine Attacke auf Eitelkeiten. Diskriminierung und Beleidigung trifft eigentlich viel mehr. Es sind Systeme wie Menschen leben wollen, wie sie sich begreifen, usw., die man gegeneinander verbal attackiert.

Das heißt also auch, wenn überall Betonquartiere entstehen und solch eine Wohnungsbaupolitik betrieben und begünstigt wird, ist dies etwas, durch das konkret andere Möglichkeiten zu bauen oder Gebäude zu erhalten, und andere Vorstellungen wie Menschen planen könnten und aus ökologischer Sicht sollten, als bescheuert vom Tisch gewischt werden.

Die Beleidigung, die die Lebensrealitäten auf der ganzen Welt verursacht, welche durch die Oberflächlichkeit und den goldenen Faden unserer Systeme – der Konsumgier von Menschen – anderen zugefügt wird, und zwar mit unumkehrbaren folgen, zählt nichts.

Man kann mit Greenwashing der Kurs plausibel erscheinend beibehalten und mit noch mehr Betonsiedlungen Fakten schaffen. Man argumentiert mit Nachhaltigkeit, was eine weitere Kränkung des gesunden Menschenverstands darstellt – denn wir alle wissen, dass „Nachhaltigkeit“ in realpolitischer Praxis (und seine dazugehörigen theoretischen Elfenbeintürmen) nicht mehr als ein technokratisches System, aber keine vermehrte Rücksichtnahme auf die Ökologie darstellt.

Wir bewegen uns in Systemblöcken. Ich glaube nicht so sehr wegen „links“ und „rechts“, sondern aus einigen andern entscheidenden Gründen.

In dem Sinne: Auch wenn ich kein Teil eines großen Oppositionsblocks bin, heißt das noch lange nicht, dass ich systemkonform sein muss.

Es gibt systemkonforme Oppositionen und systemfremde, und es gibt viable Alternativsysteme. Aber egal wie, man muss Widerstand ausdrücken können.

rev. 24.09.23

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