Diskriminieren und Diskriminiertsein geht auch zugleich
Mit Tabus aufräumen hieße auch zu benennen, dass es Menschen gibt, die von systemischen Diskriminierungsformen betroffen sind, die selbst aber auch andere Menschen […] diskriminieren können. Ich beobachte das häufiger, habe das auch schon erlebt und mache es gewiss auch selbst. Beispiele, die ich hier nennen könnte, erscheinen mir selbst viel zu sensationalistisch, aber es ist schon heftig, was es alles für Szenarien gibt.
Und um den Bogen über den menschlichen Nabel (Tellerrand) hinaus zu spannen: es ist ja auch nicht so, dass alle Menschen, die zum Beispiel selbst von Dingen, die in Richtung „innermenschlichem Sozialsadismus“ (?) gehen könnten, betroffen sind, nicht auch einen Raum der bewusst gewählten Ignoranz gegenüber Themen einnehmen könnten, die sie für sich selbst als „uninteressant“ oder wenig relevant erachten.
Was das Interaktionsspektrum zwischen Menschen anbetrifft: selbst bei Peer-Counseling ähnlichen Konstellationen des Self-Empowerment, muss man nicht gezwungenermaßen von einem völlig neutralen zwischenmenschlichen gemeinsam betretenen Boden ausgehen – weshalb sollte man das?
Und das (solch eine Annahme) würde sowohl der Idee von Intersektionalität von Problemen widersprechen als auch den multiperspektivischen Ansätzen innersozialer Kritik.
Diskriminieren und Diskriminiertsein geht auch zugleich – wenn auch „die Hebel“, an denen einer Sitzt um sein Unrechtsdenken in Taten umzusetzen, unterschiedlich lang sein können.
Keine Haltung schließt sich dabei aber aus. Und so mancher, der über wenig Hebelkraft verfügt, würde, wenn er einen lagen Hebel hätte, vermutlicherweise auch so allerhand Unfug betreiben.
Und damit es mir noch übler im Magen wird: es gibt noch ein klasse Tabuthema, und zwar selektive Diskriminierung innerhalb einer (allgemein beobachteten) Diskriminierungsform …
So gibt es Leute, die gezielt einige Leute einer (als betroffen beobachtbaren) Gruppe diskriminieren, während sie andere Leute der gleichen als betroffen ausmachbaren Gruppe aus ihrer Diskriminierungshandlung herausnehmen.
Der Bereich aktiver Diskriminierung funktioniert sehr kurz gesagt meiner Meinung nach so etwa, wie die Dame im Schach. Er kann alle Gangarten wählen.
Super einfache Frage in all dem aber ist auf jeden Fall: Wenn ich Diskriminierung beobachte und vermute. Wie sollte ich mich verhalten? Das kann man sich schon fragen, oder nicht? Und die Antworten fallen garantiert bei Leuten stets etwas unterschiedlich aus.
Ich schreibe das hier, weil unser Freund Lensetil Antispe Cat Lensel sich empört hat über die Borniertheit einiger „Menschenrechtler“ und schrieb:
„Man muss sagen, wer sich für Menschenrechte einsetzt, kann nicht aller Kritik enthoben sein. Manche machen krass auf Freifahrtschein. Dann werden halt eben Tabus an der Stelle gebrochen werden müssen, wo sie in der Tat auch echt überhaupt nicht hingehören sollten. Welpenschutz für Opportunisten, Trittbrettfahrer und Leute, die sich durch irgendeinen sozialen Status selbst privilegieren, no thanks. Das ist einfach zu hohl.“
Das war seine Reaktion auf eine pauschale Negativkritik und undifferenzierte Betrachtung sozialer Räume, die sich besonders stark mit Diskriminierungsformen auseinandersetzen sollten.
Ich stimme dem zu, niemand sollte einen moralischen Freifahrschein nutzen können, allein weil es oder sie als Aktivist, Menschenrechtler, Betroffener von Diskriminierung usw. in der Gesellschaft gilt, wenn er/sie zwar auch nur zum Teil zu diesem Zeitpunkt mehr Berücksichtigung seiner Standpunkte erhält … aber … als könne die Gesellschaft ihre Kreise dessen, was als jenseits aller Kritik steht, selbst nach Gutdünken mithilfe von ein paar Labels und Etiketten ziehen und sagen: der hat recht und der hat unrecht, wirkt sie an dieser Stelle hinein und auch damit wird operiert.
Die Menschen, die gerne als besonders autorisiert auftreten, beziehen die Legitimität ihrer Argumente meines Eindruckes nach in der Regel wirklich aus nicht mehr, als aus dem Support derer, die im Mengenverhältnis in der Gesellschaft die Mehrheit ausmachen. Eine wirkliche Auseinandersetzung mit zivilgesellschaftlichem Dialog kann so kaum funktionieren. Menschenrechte sind nicht einfach „Gruppenrechte“ und schon gar nicht einfach Mehrheitsrechte. Der Kommunikationsmodus ist wichtig.
rev. 28.09.23