Ich knüpfe hier an, an meine Fragestellung aus Text I zum Thema Demenz als Behinderung:
Lebt der dementiell veränderte Mensch „in einer eigenen Welt“ oder befindet sich diese Welt auch noch in einer gemeinsamen, geteilten, umfassenden großen Welt, in der verschiedene Realitätsempfindungen ihr Zuhause haben? [ https://simorgh.de/disablismus/demenz-als-behinderung-i/ ]
Entwurf 20.04.25
Demenz als Behinderung II
Die Formulierung, dass Menschen mit Demenz “in ihrer eigenen Welt leben”, wirkt auf den ersten Blick empathisch oder sogar poetisch, ist aber bei genauerem Hinsehen problematisch. Sie kann – wenn auch unbeabsichtigt – entmündigend, überheblich und letztlich trennend wirken.
Die Wurzel des Problems: Die Tendenz, über medizinische oder neurologische Modelle das menschliche Erleben zu objektivieren – und dabei völlig zu übersehen, dass Denken, Wahrnehmen und Fühlen keine transparenten, vermessbaren Abläufe sind, sondern zutiefst subjektiv und unzugänglich bleiben. Auch – und gerade – beim Anderen.
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“In ihrer Welt”: Eine gut gemeinte Geste mit übergriffigem Beigeschmack
In der Begleitung von Menschen mit demenziellen Veränderungen hört man oft die Formulierung, sie lebten „in ihrer eigenen Welt“. Diese Worte sind meist aus Mitgefühl und dem Wunsch nach Verständnis geboren. Und doch steckt in diesem Satz eine Vorstellung, die kritisch hinterfragt werden sollte.
Denn was heißt das eigentlich – „ihre Welt“? Meint es eine Parallelwelt, abgetrennt von der „wirklichen“ Realität, die scheinbar nur uns Nicht-Betroffenen zugänglich ist? Wer legt fest, was „wirklich“ ist? Und: Wer bestimmt, welche Erlebnisse, Gedanken, Empfindungen als gültig und „richtig“ zählen dürfen und welche Kontexte im Erleben und Leben allgemein für wen, wann und wie immer die gleiche Relevanz besitzen müssten?
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Wenn wir sagen, jemand lebe in seiner Welt, implizieren wir oft unbewusst, dass wir selbst in der richtigen Welt leben – und diese damit definieren dürfen. Das birgt die Gefahr, Menschen mit Demenz nicht mehr als vollwertige Teilnehmende unserer gemeinsamen Wirklichkeit zu sehen, sondern als Besucher*innen einer anderen, weniger realen Dimension.
Damit sprechen wir ihnen ein Stück weit ab, dass ihre Erfahrungen Bedeutung und Gültigkeit haben. Es kann ein subtiler Akt der Ausgrenzung sein – auch wenn er gut gemeint ist.
Tatsächlich leben Menschen mit Demenz nicht in „einer anderen Welt“. Sie leben in dieser Welt – genau wie wir.
Die Beobachtung, dass Erlebensdimensionen von Menschen mit demenziellen Veränderungen anders sind, in Hinsicht auf Wahrnehmung, Gedächtnis, zeitliche Orientierung, z.B. sollte nicht bestimmten Schlussfolgerungen darüber führen, die die Außenansicht über Betroffene in eine Position des auktorialer, allwissenden Erzählers quasi versetzt. Steckt man Menschen mit Demenz in das Konzept einer „eigenen Welt“ besteht aber genau diese Gefahr, Menschen werden als Teil der gemeinsamen faktischen Realität exkludiert in eine Art Sonderrolle, in der Dritte über einen ganzen Menschen Bescheid wüssten, weil es neurologisch durch einen pathologisierten Zustand irgendwie fremddefinierbarer sein soll (dieser Mensch kann sich ja nicht helfen, also sprechen Dritte, die im helfen wollen über ihn).
Dabei wird der eigentliche Punkt, wie Integrität weitergeht, in solch einer Form der das kognitive anbetreffenden Behinderung.
Gefühle, Bezüge, ihre Bedürfnisse rühren nicht aus einer verengter fassbaren Welt, wenn ein Mensch von Demenz betroffen ist: sie sind real, und es tut sich einfach ein viel größeres Spektrum auf über Räume, in denen Menschen sich gedanklich, geistig bewegen können – auch oder gerande im Zustand von Krankheit oder einem neurodivergenten Zustand von Behinderung. Und es liegt an uns, unsere Vorstellung von Normalität so zu erweitern, dass Wirklichkeiten, die wir als von unseren als abweichend betrachten, in der Normalität Platz finden – nicht umgekehrt, das heißt, nicht dass wir einen verengenden Begriff dem andern überstülpen und aufzwängen um unser „normal“ nicht ergänzen oder verändern zu müssen.
Was Menschen mit demenziellen Veränderungen gerecht würde, ist nicht die gutgemeinte aber übegriffige Zuschreibung eines Sonderuniversums, sondern ein Raum, der jegliches Erleben nicht schubladisiert oder von individuellen Narrativen entkoppelt. Erleben muss ernst genommen werden, indem wir nicht über die Realitäten und „Welten“ anderer mutmaßen, sondern unsere Haltung beachten und kritisch beleuchten, denn es geht nicht darum, die „Welt“ der somit ‚geotherten‘ Menschen zu betreten, sondern unsere gemeinsame Realität beziehungsfähig zu gestalten.
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Die Worte „in ihrer eigenen Welt“ entspringen häufig Mitgefühl und dem Wunsch nach Verständnis. Diese Formulierung hat aber einen eher ausschließenden als einschließen Effekt. Der Satz vermittelt, dass Menschen mit Demenz eine Art Parallelwelt bewohnen – getrennt von der „eigentlichen“ Realität, in der wir übrigen uns befinden. Und wer definiert jetzt, was diese „eigentliche“ Realität sein soll?
Wenn wir behaupten, jemand lebe „in seiner eigenen Welt“, nehmen wir implizit für uns in Anspruch, die wahre, richtige Welt zu kennen – und sie zu deuten. Wir entziehen dem anderen das Recht auf die Gültigkeit seines jeweiligen individuell erlebten Erlebens. Von der Formulierung her ist das eine harte Form des Othering. Und auch wenn dem ganzen eine medizinische Diagnose anhaftet, ist diese immer wieder verwendete Redeweise, offensichtlich ja unbeabsichtigt übergriffig, entmündigend und ausgrenzend.
Eine Veränderung in kognitiven Prozessen heißt noch lange nicht, dass jeglicher Außenstehende und auch kein definitorischer Rahmen, der sich um einer Diagnose herumwindet, einen privilegierten Zugang zu „derer Welt“ hätte. Niemand kann jemals ganz in das Denken eines anderen Menschen hineinschauen. Und genau diesem Punkt gilt das allergrößte Augenmerk im Spagat zwischen interessierter Fürsorge und Hilfe und Anerkennung des Betroffenen in seinen Rechten.
Das Denken eines Menschen – egal ob mit oder ohne Demenz – ist ein hochkomplexer, innerer Prozess, der sich niemals vollständig von außen erfassen oder bewerten lässt. Jede qualitative Einschätzung dessen, wie jemand denkt oder fühlt, bleibt ein Blick von außen – und wird zur Grenzüberschreitung, wenn sie als Wahrheit behauptet wird.
Eine Betrachtung, die die Aussage zulässt, das man von einer „Welt“ spricht, in der sich ein Mensch geistig bewege qua neurologischer Veränderungen, reduziert das menschliche Erleben auf medizinische oder neurologische Erklärungsmodelle. Sie ignoriert, dass Denken mehr ist als messbare Gehirnaktivität. Sie ignoriert, dass hinter jeder Äußerung ein fühlendes, selbstbestimmtes Wesen steht – mit einer Würde, die nicht an Diagnose oder Diagnosefreiheit gebunden ist. Und das bei aller Veränderung zu verstehen, hier dicht dran zu bleiben und mitgehen zu können, wäre eine sinnvollere Richtung als die der Distanzierung von einer derart schwierigen Erlebnisphase […]
Was Menschen mit Demenz brauchen, ist keine Zuschreibung eines Sonderuniversums, sondern eine respektvolle Anerkennung ihrer Perspektive. Es geht nicht darum, „ihre Welt“ zu betreten – sondern unsere gemeinsame Realität so zu gestalten, dass darin Platz ist für Vielfalt im Erleben. Es geht nicht um Anpassung an ein Modell, sondern um Beziehung, Würde und Freiheit.
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Handout dazu:
“Nicht in ihrer Welt – in unserer Wirklichkeit.” Würde beginnt dort, wo Perspektiven nebeneinander bestehen dürfen.
„In ihrer Welt“ – Ein Satz, der gut gemeint ist. Und trotzdem falsch.
Wer Menschen mit Demenz begleitet – beruflich oder privat – kennt diesen Satz:
„Sie lebt in ihrer eigenen Welt.“
Oft ist er mit Mitgefühl gesagt, manchmal auch mit einem Seufzen. Er soll Verständnis ausdrücken, Entlastung bringen, vielleicht auch einen Umgang finden mit Momenten, die herausfordernd sind. Und doch: So gut gemeint dieser Satz ist – so problematisch ist er auch.
Denn was genau meint er? Dass die betroffene Person nicht mehr Teil unserer gemeinsamen Welt sei? Dass sie sich in einer Art Paralleluniversum befindet, während wir „normal“ weiterleben? Und wer entscheidet, was „normal“ ist?
Wenn wir sagen, jemand lebt „in seiner eigenen Welt“, nehmen wir für uns in Anspruch, die „wirkliche“ Welt zu kennen – und damit auch, was Realität bedeutet. Doch genau hier beginnt das Problem: Diese Sichtweise macht die Lebensrealität von Menschen mit Demenz zu etwas „Anderem“, zu etwas Fremdem. Und sie reduziert sie auf ihre Diagnose.
Aber: Menschen mit Demenz leben nicht in einer anderen Welt. Sie leben in dieser Welt – genauso wie wir. Sie erleben sie vielleicht anders in bestimmten Punkten: Orientierung, Erinnern, die in Bezugsetzung zu zeitliche Struktur befinden sich in Phasen von Veränderung. Aber das bedeutet nicht, dass ihre Realität weniger gültig ist oder weniger bedeutungsvoll in ihrem „in der Welt sein“. Wie sich solche Veränderungen auf das soziale Miteinander, Funktionen und Funktionalität auswirken mag eine Sache sein, aber das Individuum selbst befindet sich immernoch im realen Universum und die Affirmation, dies anzuerkennen erscheint gerade wichtig, damit der Bezug zur realen Welt nicht verloren geht, nur weil man als Mensch nicht mehr wie vorher Mensch unter Menschen sein kann. Der Mensch ist immer noch in der Welt und genau da wird er auch abgeholt. Das „in der Welt sein“ begrenzt sich nicht auf Funktionalität.
Was wir oft übersehen ist in der Tat:
Wir können niemals in das Denken eines anderen Menschen hineinschauen. Das gilt für Menschen mit Demenz genauso wie für jeden anderen. Denken, Wahrnehmen und Fühlen sind zutiefst persönliche, komplexe Vorgänge. Sie lassen sich nicht objektiv beurteilen, schon gar nicht im Rahmen medizinischer Modelle allein.
Wenn wir beginnen, das Denken eines Menschen zu bewerten – sei es als „richtig“, „falsch“, „klar“ oder „verwirrt“ – überschreiten wir eine Grenze. Dann machen wir das, was wir verstehen oder nachvollziehen können, zur Norm – und alles andere zu Abweichung. Damit greifen wir nicht nur in die Denkfreiheit eines Menschen ein, sondern stellen letztlich auch seine Würde infrage.
Gehirnforschung, Diagnostik und Pflegewissenschaften können wertvolle Hinweise geben – aber sie dürfen nicht zur einzigen Brille werden, durch die wir Menschen betrachten. Das menschliche Erleben ist größer. Es ist nicht vollständig erklärbar. Und es bleibt immer ein Stück weit geheimnisvoll. Genau das macht Beziehung aus – auch und gerade in der Demenz.
Statt über „ihre Welt“ zu sprechen, könnten wir fragen:
Wie kann unsere gemeinsame Welt weiter beziehungsfähig bleiben – auch wenn sich Wahrnehmung, Sprache oder Erinnerung verändern?
Wie können wir Veränderung in Realitätsbegriffen eines Menschen ernst nehmen, wenn Reaktion auf Realitäten sich bei einem Menschen verändern?
Aber wichtig ist es sich immer dabei darüber bewusst zu sein, dass ein „WIE“ von Veränderung nicht in einer den Menschen eingrenzenden Weise definiert werden sollte über definierende Ansätze und Modelle. Das heißt: Wie hat sich der Mensch verändert sollte nicht mit fremddefinitorischer Beengung der Würde eines Menschen beantwortet werden.
Genauso die Mutmaßungen darüber, „WIE eine aus unserer Sicht wahrgenommene Veränderung im Realitätsempfinden sich im Detail bildet“.
Menschen mit Demenz brauchen keine Sonderwelt. Sie brauchen Anerkennung, Respekt und echte Begegnung – jenseits von Etiketten.
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