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In Memoriam Korrespondenz

Ausschnitt meiner Schreiben an Frau Sauer (1)

Entwurf

Meine liebe Frau Sauer,

endlich komme ich dazu Ihnen zu schreiben. Nun nachdem Sie diese lange Reise angetreten sind, und wir uns versprochen haben immer Freunde zu sein, die auch einen steten Kontakt pflegen, der nicht endet durch irgendeine fremdaufgezwungene willkürliche Beschränkung. Endlich konnten Ihre Eltern Sie abholen und endlich hält Ihr Heinz Sie wieder in seinen Armen. Wie sehr werden alle gebangt haben und jetzt sind sie da! Nach all den Jahren, die Sie hier unter Bedingungen aushalten mussten, von denen wir noch so lange sprechen werden, bis ein neueres Kapitel dieses erklärbar werden lässt.

Es ist wirklich nicht zu glauben, aber tatsächlich haben Menschen, einige Menschen … Witze über Ihre Abreise gemacht, im Wissen darüber, dass sie eine ganz eigene Reise angetreten haben und so lange hadern mussten um all dies hier aushalten zu können.

Keiner sprach vorher von ihrem Leid, und ihre Sorge wurde teils unbeholfen gespiegelt, teils lächerlich abgetan – ins Lächerliche von Lächerlichen durch Lächerlichkeit gezogen. Alles ist lächerlich. Aber nun denn, einige haben tatsächlich Witze gemacht, als seien Sie, als seien die Bande, die Freunde verbinden in ihrem Schmerz und in ihrer Sorge, etwas Verächtliches.

Ich berichtete ihnen häufiger von alten Lehrmeistern, die ihnen im Vogelsberg damals und später auch in Mainz noch entgangen waren. Und an dieser Stelle möchte ich Sie auf folgende Textpassage von Seneca aus seinen Briefen an Lucilius hinweisen. Da mir durch meinen eigenen Umzug meine Bände in der Übersetzung von Ernst Glaser-Gerhard (Gesamtausgabe I und II, Hamburg, 1965) nicht zur Hand liegen, schaue ich, ob ich den Auszug, den ich Ihnen nennen möchte, in anderer Fassung im Netz finde …

In einer Fassung von Lothar Baus, Asklepios Edition > https://d-nb.info/1233432877/34 [Zugriff 04.12.23]

11. Brief [Die unwillkürliche Regung des moralischen Bewusstseins, die in der Schamröte hervortritt, sollte man dadurch befördern, dass man sich bei allen seinen Handlungen achtbare Menschen als Zeugen vorstellt], S 94.

“Ein großer Teil unserer Verfehlungen kommt dadurch in Wegfall, dass dem zur Übeltat Neigenden ein Zeuge zur Seite steht. Die Psyche sollte ein Ehrfurcht gebietendes Vorbild in sich tragen, dessen Einfluss
stark genug ist, um die schlimmsten geheimen Gedanken in unschuldige zu verändern. Wie hervorragend muss doch der sein, der nicht nur durch seine Gegenwart sondern auch schon, wenn man nur an ihn denkt, einen bessernden Einfluss ausübt. Wie glücklich der, der für einen anderen so viel Hochachtung empfindet, dass die bloße Erinnerung an ihn genügt, um das eigene Innere nach seinem Vorbild zu gestalten und zu verändern.”

Und hier nochmal auf der ebenfalls sehr hilfreiche Netzressource > https://www.lateinheft.de/seneca/seneca-epistulae-morales-epistula-11-ubersetzung/ [Zugriff 04.12.23]

Iam clausulam epistula poscit. Accipe, et quidem utilem ac salutarem, quam te affigere animo volo: ‚Aliquis vir bonus nobis diligendus est ac semper ante oculos habendus, ut sic tamquam illo spectante vivamus et omnia tamquam illo vidente faciamus‘.

Schon ist es Zeit, den Brief zu schließen. Vernimm eine nützliche, heilsame Ermahnung und nimm sie dir recht zu Herzen: Einen tüchtigen Mann sollen wir uns zum Vorbild wählen und immer vor Augen haben, um gewissermaßen unter seinen Augen zu leben, stets unter seinem Blick zu handeln.

Hoc, mi Lucili, Epicurus praecepit. Custodem nobis et paedagogum dedit, nec immerito: Magna pars peccatorum tollitur, si peccaturis testis assistit.

Das, mein lieber Lucilius, ist ein Mahnwort Epikurs. Einen Hüter und Pädagogen gibt er uns zur Seite, und das mit vollem Recht: Ein großer Teil unserer Fehler wird schon dadurch beseitigt, dass dem Menschen, der dabei ist, einen Fehler zu begehen, ein Zeuge zur Seite steht.

Aliquem habeat animus quem vereatur, cuius auctoritate etiam secretum suum sanctius faciat.

Ein Vorbild muss die Seele haben, vor dem Ehrfurcht sie erfasst, unter dessen Einfluss sie auch ihre geheimsten Gefühle heiligt.

O felicem illum, qui non praesens tantum, sed etiam cogitatus emendat!

Glücklich der Mann, der nicht bloß durch seine Gegenwart, sondern schon dadurch, dass man an ihn denkt, den Mitmenschen bessert!

O felicem, qui sic aliquem vereri potest, ut ad memoriam quoque eius se componat atque ordinet!

Glücklich auch der Mensch, der für einen Mitmenschen solche Ehrfurcht zu empfinden vermag, dass die bloße Erinnerung an ihn das eigene Ich in Ordnung bringt und auch formt!

Derweil, wir sind im Austausch meine liebe Frau Sauer.

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