Introspektionen und Distanz. Eine Eigenkritik am Vegansein, denn es umfasst noch nicht genug.

Was mich interessiert ist der Grund, warum die ‘vegane Bewegung’ im deutschsprachigen Raum so kaum kritisch mit sich selbst umgehen will. Das fällt mir besonders auf, bei der Kluft zwischen Wunsch und Realität in Sachen ‘wir sind moralisch ja doch überlegen – weil wir die Tiere in unsere Ethik mit einbeziehen’.

Meine lieben veganen Kolleg_innen werden ihrem Anspruch in einer eingegrenzten und praxisorientierten Ebene gerecht, aber die Ursachen von Speziesismus (als den Veganismus notwendig machende Unterdrückungsform) werden nicht weiter hinterfragt und ‘veganisiert’. Und so und anders ist der Veganismus noch lange nicht die letzte Station in Sachen umgreifender Gerechtigkeit, die wir jemals erlangen könnten.

Man denke an folgende offensichtliche Defizite:

Wie geht man mit dem veganen Konsumerismus um?

Das schlimme ist, dass immer nur ein Weg als der gangbare untereinander gefördert wird. So haben wir es auf der einen Seite mit der Gruppe Veganer_innen zu tun, die sagen, jeder Konsum ist gut, solange vegan… und mit der andere Seite, die da sagt, wir müssen alles in Richtung Postwachstum ausbauen und eine biovegane Landwirtschaft (1) als gemeinsame Utopie verfolgen. Die reell existierende Schnittmenge (denn wir alle sind gezwungen irgendwie zu konsumieren) und die bislang kaum wahrgenommenen Ruderalerscheinungen (andere, vielleicht auch weniger spektakuläre vegane Lebensmodelle) ringsherum fallen in der Selbstwahrnehmung der ‘veganen Bewegung’ generell unter den Tisch.

Wie geht man mit der veganen Entpolitisiertheit um?

a.) in Sachen Menschenrechten: die Veganer_innen in unseren Gefilden halten sich zumeist für interessiert an globalen Menschenrechten. Die Warte, die aber immer vorwiegend eingenommen wird, ist eine weiß-zentrische, patriarchal-freundliche, die die Folgen von Rassismus und (Post-)Kolonialisierung und das Ineinandergreifen unterschiedlicher Herrschaftsstrukturen und hegemonialer Unterdrückungsmechanismen als ‘Minderheitsprobleme’ (2) abtut. So kannst Du kaum erwarten, dass ein_e Veganer_in hierzulande sich dafür interessiert, was tatsächlich in einem anderen Land an Menschenrechtsverstößen los ist. Ein Mensch, der die vermeintlichen Vorteile unserer neoliberalen Demokratien genießt, braucht sich nur nach dem Soll zu richten, dass die Medien und ein allgemeines soziales Unwohlsein und schlechtes Gewissen in der Gesellschaft ihm vorgibt.

b.) auf welcher Ebene wird der Veganismus eigentlich beworben? Es gibt die Veganer_innen, die die gesundheitlichen Aspekte betonen, und diejenigen, die mit der ethischen Seite werben und primär argumentieren… soweit, dass Nichtmenschen ja auch fühlende Wesen sind; aber viel mehr wird auch nicht am anthropozentrischen Gerüst gekratzt … und das waren wohl auch schon beide Hauptströmungen im Veganismus. Beide sind in dem Punkt miteinander d’accord, dass sie auf die Ernsthaftigkeit der Tierunterdrückung nur mit einer Tierethik hinweisen, die Tiere immer noch als Objekte der Definitionshoheitsgebiete einer anthropozentrischen Naturwissenschaft, eines anthropozentrischen Rechts, solcher Religionen und Kulturen und Kulturverständnisse betrachten. Der eigentliche Unterdrückungsmoment ist also im weiß-zentrischen Veganismus immer noch nicht behoben.

Der Lösungsweg zur veganen Gesundheit und die Vorstellung von veganer Konsequenz liegt zumeist einerseits in der Propagierung eines konsumabhängigen Hebels (3) und Lifestyles, und andererseits haben wird den Anspruch auf vegane Kompetenz im kollektiven Aktivismus bei Demos, in sozialen Netzwerken, in Vereinen, bei Konferenzen, in der Obhut des Kulturindustriellen- und Bildungsindustriellen-Komplex… , wobei immer wieder Mehrheitsprinzipien begünstigt werden und dabei wenig pluralistisches Denken und Handeln zugelassen und/oder hervorgebracht wird. (4)

Der intersektionale Anspruch der ‘aufgeklärten’ Variante des weiß-zentrischen Veganismus klammert immer noch aus, den Tieren im politischen und soziologischen Zusammenhang als ‘animal bodies’ eine Autonomie zuzugestehen und die Menschen in einem weitaus größeren Geflecht zu betrachten als unter dem Gesichtspunkt weiß-zentrischer Narrative. Dies mag an den stagnanten Vorgehensweisen liegen die man wählt, oder daran, dass das Konzept des Veganismus selbst immer noch zu vage ist und in seinen politisch/ethischen/sozialen Forderungen nicht wirklich weit genug geht.

Ich denke immer noch man könne den Veganismus ausbauen, aber vielleicht muss man auch an neuen konkreteren Konzepten basteln. Und das Bewusstsein, dass Tiere mit in den ethischen und politischen Raum hineingehören, ist vielleicht einfach eines, das eh, ganz selbstverständlich im Zuge menschlicher Emanzipation fällig war.

(1) Die biovegane Landwirtschaft interessiert sich für die nichtmenschlichen Tiere, denen Raum zurückgegeben müsste, auch nur als ‘abwesenden Referenten”, indem ihnen in der Lebensgemeinschaft, für die man ‘Land’ in veganer Weise in Anspruch nimmt, keine tierliche Teilhabe zugestanden wird und man ihrer Problematik nur als indirekt adressierbar begegnet. Das Problem des Lebensraumes wird den Lebenshöfen überlassen, die als ‘Utopie’ und Lebensform weit weniger seitens des Veganismus durchformuliert werden. Siehe für eine Kritik an dieser Handlungsweise: Vegan Mergers: Sanctuaries, Veganic Land ‘use’ and Biotopes.

(2) Zur Unsichtbarkeit neoliberalen Post-Rassismus: Neoliberal Racism’s Post-Racial Playbook, wobei der ‘Unsichtbarkeit’ als soziales Problem der Unterdrückungsmechanismen überhaupt fortwährend und übergreifend begegnet werden muss.

(3)  “Bei vielem der Rhetorik, die sich um das koloniale Weißsein windet, geht es um Ängste bezüglich des Körpers und um Reinheit. Und dann schließlich, ein Konzept das nun eher neu dazukommt: Neoliberalismus: dass eine Veränderung effektiv nur durch die individuelle Macht der Konsumenten herbeigeführt werden kann, nicht aber durch strukturelle Veränderungen. Alles was du zu tun hast, ist ein veganes Produkt zu kaufen um damit einen gesunden Körper zu erlangen.” – A. Breeze Harper: Vegane Nahrungsmittelpolitik: eine schwarze feministische Perspektive.

(4) Das Denken, als Notwendigkeit und Chance im Aktivismus, fällt im Veganismus noch zu viel unter den Tisch, und so wird kein zugrunde liegendes Konzept, kein Rahmenwerk einer ‘veganen’ Ethik entwickelt. Die antirassistische Tierbefreiungs-Aktivistin Aph Ko äußert dazu folgende Kritik:

“Viele Leute bereifen nicht, dass das Denken tatsächlich einen Teil unseres Aktivismus ausmachen sollte. Das Denken wurde schon viel zu lange von der akademischen Welt vereinnahmt und so meinen wir, dass wir Theorie und Gedankenentwicklung eben ‚diesen’ elitistischen Menschen überlassen sollten … wenn genau aber dies doch einen Teil der öffentlichen Domäne ausmachen sollte.
[…]
Da zahlreiche unkritische Menschen Führungspositionen in den Bewegungen einnehmen, verlässt man sich auf sehr einfache, an der Oberfläche verharrende Taktiken um Menschen zu einem politischen Lebensstil hingehend zu „schocken“. Daher hat der Veganismus auch einen entsprechend schlechten Namen erhalten … er bleibt an der Oberfläche und ist sensationalistisch. Bildlichkeit kann funktionieren, insbesondere wenn sie an ein neues Rahmenwerk gebunden wird … aber die Schaffung neuer konzeptueller Rahmenwerke ist generell genau der Teil, der übersehen wird.”

Siehe: Eine antirassitische Aktivistin, die für die Tierbefreiung kämpft. Ein Interview von Mark Hawthorne mit Aph Ko.

Krokodil @veganerbund

Eine antirassitische Aktivistin, die für die Tierbefreiung kämpft. Ein Interview von Mark Hawthorne mit Aph Ko.

Ein Interview von Mark Hawthorne mit Aph Ko

Aph Ko: Eine antirassitische Aktivistin, die für die Tierbefreiung kämpft

bvr

Quelle dieses Interviews mit Aph Ko ist Mark Hawthornes Blog ‚Striking at the Roots: Animal activism around the world’: Aph Ko: Anti-Racist Activist Fighting for Animal Liberation, https://strikingattheroots.wordpress.com/2016/05/31/aph-ko-anti-racist-activist-fighting-for-animal-liberation/. Übersetzung: Gita Yegane Arani-Prenzel, mit der freundlichen Genehmigung von Aph Ko und Mark Hawthorne.

Dieser Text als PDF

Wer sich im letzten Jahr aktiv in der veganen Bewegung engagiert hat, der hat bestimmt bereits schon etwas von Aph Ko gehört. Aph ist im Bereich sozialer Gerechtigkeit aktiv und setzt dazu in effektiver Weise die sozialen Medien ein. Sie hat 2015 das Projekt ‚Black Vegans Rock’ gegründet, nachdem sie als vegane Aktivistin einen Bericht mit einer erstmaligen Auflistung 100 schwarzer Veganer_innen verfasste, und, sie ist die Gründerin von Aphro-ism – einer Webseite, die sich der schwarzen veganen feministischen Analyse widmet, und die sie gemeinsam mit ihrer Schwester Syl Ko betreibt. Beide fordern dort das, was sie als eine „epistemologische Revolution“ bezeichnen, indem sie über die Unterdrückung von Tieren und rassifizierte Unterdrückung schreiben. „Wir glauben, dass wir mitunter mehr für die Tiere und uns selbst tun können, indem wir die Art und Weise ändern, wie wir tatsächlich begreifen, warum Unterdrückung überhaupt geschieht,“ erklärt Aph in dieser beeindruckenden Rede, die sie anlässlich der Intersectional Justice Conference im Staate Washington gehalten hat, und bei der ich die Ehre hatte Aph und einige andere beachtenswerte Aktivist_innen im März dieses Jahres kennen zu lernen.

Aph ist auch eine Produzentin unabhängiger Medien und die Schöpferin der Comedy-Webserie ‚Black Feminist Blogger’. Man braucht wohl kaum erwähnen, dass Aph außerordentlich beschäftigt ist, ich bin ihr daher also besonders dankbar, dass sie sich die Zeit genommen hat, mir auf einige Fragen über ihren Aktivismus per Email zu antworten. Ich denke Ihr werdet von ihren Denkanstoß gebenden Antworten sehr begeistert sein.

Aph, du bist im Punkte digitaler Medien unheimlich bewandert – bloggen, Videos, die sozialen Medien, Online-Artikel. Bist Du der Meinung, dass es eine Form gibt, die sich für den Aktivismus für soziale Gerechtigkeit in ihrer Effizienz ganz besonders eignet?

Ich denke all diese Formen dienen einem einmaligen und spezifischen Zweck. Videos sind hilfreich dabei, bestimmte Narrative voranzutreiben, in einer Weise wie es das Bloggen nicht kann; Bloggen hingegen ist eher persönlich. Es hilft mir dabei, meine eigene Stimme auszutesten, während ich anderen dabei zugleich gute Ressourcen empfehlen kann. Ich denke deine Stärken geben dir vor, welches Medium du am besten verwenden solltest. Wenn du mehr Fähigkeiten darin besitzt, deine Gedanken expressiv zu artikulieren und Zusammenhänge eher über das Sprechen herleitest, dann ist es wahrscheinlich besser wenn du ein Video machst. Wenn du deine Gedanken aber besser über das Schreiben organisieren kannst, dann ist es von Vorteil, wenn du ein Blogposting verfasst.

Ich glaube viele Veganer_innen sind sich in dem Punkt einig, dass die digitalen Medien dabei geholfen haben, die vegane Botschaft voranzubringen. Denkst Du, dass die digitalen Medien auch dabei hilfreich waren, Fortschritte bei den Themen zu erwirken, die die marginalisierten Gruppen anbetreffen?

Ich würde sagen ja und nein. Es hat einige Zeit gedauert, bis ich realisiert habe, wie ich die digitalen Medien dazu gebrauchen wollte, um meine Stimme zu verstärken, während ich mir aber gleichzeitig mein Gefühl für die Gemeinschaft bewahrt habe. Ich denke, dass die digitalen Medien und das Internet insgesamt bloß eine Erweiterung der realen Welt, in der wir leben, darstellten, und so beherrschen Rassismus und Sexismus selbst auch diese digitalen Räume. Aus diesem Grund erhalten auch bestimmte Stimmen mehr Aufmerksamkeit als andere. Bestimmte Versionen der Realität werden verbreitet, während andere zur Seite gedrängt werden.

Und das ist auch warum das eurozentrische Denken und das Weißsein [1] beinahe alle Bewegungen sozialer Gerechtigkeit befallen – selbst online. Weiße Menschen schreiben zum größten Teil die Literatur, die verbreitet wird. Ihre Sichtweise über Unterdrückung und Befreiung wird als einzige oder als die maßgebliche Perspektive betrachtet. Und, da sie die über die meisten Ressourcen verfügen, sind sie auch imstande dazu, zu den bestimmenden Autor_innen in den Forderungen nach sozialem Wandel und im Aktivismus zu werden, was allerdings verheerende Konsequenzen mit sich gebracht hat.

In der Vergangenheit habe ich Stunden damit verbracht, die Art zu bekämpfen wie Weiße ihre Arbeiten erledigen, bis ich eines Tages gemerkt habe, dass mich das Ganze einfach nur noch langweilte. Die weiße Realität fortwährend zu bekämpfen, lässt einen zu dem Eindruck gelangen, als sei deren Realität tatsächlich die einzige die existiert. Ich musste meine eigenen Erfahrungen validieren indem mit People of Color [2] sprach, indem ich für und an People of Color schrieb und indem ich Texte von People of Color las. Und hierbei halfen mir die digitalen Medien. Ich habe meine Herangehensweise an die Themen Unterdrückung und Befreiung dabei absolut revolutionieren können und bin dafür vielen schwarzen radikalen Autor_innen dankbar, die unermüdlich online arbeiten um qualitativ hochwertige und wegweisende Analysen zu bieten.

Für minorisierte Menschen ist es schwer online miteinander zu kommunizieren, ohne einem weißen, sich einmischenden Kontrollblick ausgesetzt zu sein und ohne Appropriationen. Sobald einige Minderheiten bemerken, dass Weiße ihnen zuschauen, ändern sie ihr Verhalten oder fangen an ihre Artikel auf ein weißes Publikum zuzuschneiden.

Ich kann dir nicht sagen wie viele Vegans of Color Essays und Artikel FÜR Weiße schreiben, während sie dabei die farbige Leserschaft total außer Acht lassen.

Und daher denke ich, dass abhängig davon wo man sich gerade in seinem Aktivismus befindet, die digitalen Medien entweder ein Werkzeug zur Befreiung sein können, dass einem dabei hilft sich mit Leuten zu verbinden, die ebenso dabei engagiert sind sich für einen positiven Wechsel in der Welt einzusetzen, oder sie können dir dabei helfen, die weiße Version der Realität (ungeachtet deiner Hautfarbe) zu reproduzieren.

Es ist (wirklich) schwer einen echten Wechsel online zu erleben, wenn das digitale Terrain auf dem wir stehen, sich im Besitz Weißer befindet.

Welchen Rat hast du für Leute, die damit beginnen wollen, die digitalen Medien für ihren Aktivismus zu gebrauchen?

Meine Antwort hängt zum größten Teil davon ab, wer mir solch eine Frage stellt. Der Kontext spielt hier definitiv eine Rolle. Wenn du eine weiße Person bist, die eine Webseite oder ein digitales Projekt über Tierrechte oder Feminismus oder Antirassismus starten will, dann halte inne und überlege mal, warum du meinst du müsstest dies tun wenn es bereits so viele Räume gibt, die von Weißen geschaffen worden sind. Bietest du wirklich eine Perspektive die es nicht schon da draußen gibt, oder willst du einfach ein wenig digitales Land für dich einnehmen?

Wenn du eine Person of Color bist, würde ich dir zuerst einmal zur Vorsicht raten, bevor du damit beginnst, deine Ideen kostenfrei dort in die Welt zu tragen. Es gibt vermehrt Belege dafür, dass Ideen und Gedanken, die von People of Color online gestellt werden, immer öfter gestohlen werden. Das heißt, dass eine Urheberschaft von People of Color nicht gekennzeichnet wird, oder auch, dass sie für ihre Ideen nicht kompensiert werden, was wiederum bedeutet, dass farbige Aktivist_innen wirklich vorsichtig sein sollten, wenn sie die digitalen Medien verwenden um andern ihre Gedanken mitzuteilen.

Ich würde sagen, dass man nicht all sein Vertrauen in das Internet oder die sozialen Medien stecken sollte. Zum Beispiel ist es kein Zufall, dass weiße Männer einige der erfolgreichsten Plattformen sozialer Medien, die wir heute verwenden, geschaffen haben. Dies sollte Activists of Color, die diese Räume gebrauchen um antirassistische Befreiungsprojekte [3] zu schaffen, etwas signalisieren. Das Rohmaterial, das wir in unserem Aktivismus gebrauchen, spielt eine Rolle.

Ich musste das in einer unliebsamen Weise herausfinden. Meine Ideen wurden gestohlen, neu verpackt, und ich habe zusehen müssen wie andere dafür Gelder einstrichen – für genau die Dinge, die ich zuvor geschrieben hatte (selbst Activists of Color haben meine Arbeiten verwendet). Ich bin dadurch viel vorsichtiger damit geworden, meine Texte online zu veröffentlichen. Wenn man etwas Neues oder Interessantes zu sagen hat, dann haben Leute häufig die Neigung, sich in deine Richtung zu bewegen und dann tatsächlich Dinge zu übernehmen, die du geschrieben hast. Um ehrlich zu sein, betrachte ich das Bloggen insgesamt durch diese Erfahrung in einem ganz andern Licht.

Ich denke People of Color müssen lernen die geschäftliche Seite des Aktivismus zu begreifen, bevor sie sich der digitalen Welt anschließen und beginnen, ihr zu vertrauen … denn nicht zuletzt ist der Aktivismus selbst zum größten Teil ein Geschäft. Im überwiegenden Maße besitzen Weiße die größten Non-Profits und die korporativen Aktivist_innen-Seiten und -Räume. Den People of Color ist dies nicht ganz so bewusst, da wir eher dazu tendieren an den Aktivismus aus Gründen des Überlebens zu kommen und nicht so sehr wegen des Geschäfts (dies trifft allerdings nicht auf alle Fälle zu).

Wenn marginalisierte Menschen also die digitalen Medien für ihr Überleben einsetzen, und man die Leute der dominanten Klasse hat, die digitale Medien für Geschäftszwecke nutzen, dann kannst du dir wohl ausmalen als wie predatorisch und brutal sich das digitale Territorium für einige von uns entpuppen kann.

Ich entwickle ein zunehmendes Misstrauen der Onlinewelt gegenüber als ein Vehikel für den sozialen Wechsel. Und deshalb erkunde ich zusätzliche Möglichkeiten was zum Beispiel die Printmedien anbetrifft. Minorisierte Aktivist_innen sollten meiner Meinung nach viel mehr Kraft in das Verfassen von Buchpublikationen oder in die Schöpfung eine Zines stecken … als etwas haptisches, das man besitzen kann, statt das weiße digitale Land einzusetzen um ihre intellektuellen Gedanken zu kultivieren.

Existieren neben BlackVegansRock.com und Aphro-ism.com weitere schwarz-zentrische Online-Räume die du Aktivist_innen empfehlen würdest – insbesondere welche, die dich beeinflusst haben?

Defnitiv. Mich haben Seiten wie das Sistah Vegan Project und Striving with Systems sehr beeinflusst. Ich schaue mir auch gerne digitale Räume an, die nicht unbedingt über Tierrechte sprechen, jedoch aber über andere ebenfalls systemische Probleme. Ich liebe For Harriet, Black Girl Dangerous, Crunk Feminist Collective, alles von Dr. Brittney Cooper und Autostraddle (bei denen man einige großartige queere schwarze Autor_innen findet).

Du hast an anderer Stelle gesagt, dass die Tierrrechts-/vegane Bewegung sich zu sehr auf Bilder verlässt und zu wenig auf das kritische Denken. Kannst du uns das ein wenig erklären?

Ich bin bekannt für meine Aussage: Menschen sind nicht durch einen Schock zum Fleischessen gekommen und sie werden sich auch nicht durch einen Schock wieder davon wegbringen lassen.

Ich will das ein wenig erklären: das größte Problem, das die weiße Tierrechtsbewegung hat, ist, dass sie es nicht wirklich schaffen zu orten WARUM Tierunterdrückung stattfindet. Sie sehen die Unterdrückungsfolgen – die sehen die Opfer – aber die meisten dieser Aktivist_innen haben konzeptuell keine Ahnung weshalb Tiere systematisch verletzt werden. Manchmal tut es einem weh Aktivist_innen der dominanten Klasse dabei zu beobachten, wie sie versuchen Kampagnen zu entwerfen, die die Unterdrückung von Tieren beenden sollen (ohne zu begreifen, dass sie sie in Wirklichkeit fortsetzen) und andere Male ist es beinahe lachhaft.

Weiße Leute scheinen nicht zu versehen, dass das weiße Überlegenheitsdenken Tieren systematisch schadet [4]. Weiße möchten nicht aus ihrer Führungsrolle hinaustreten, sie wollen aber die Tierunterdrückung beenden, was soviel heißt wie, sie wollen Verhaltensweisen, die Tiere diskursiv verletzen, nicht verändern.

Da zahlreiche unkritische Menschen Führungspositionen in den Bewegungen einnehmen, verlässt man sich auf sehr einfache, an der Oberfläche verharrende Taktiken um Menschen zu einem politischen Lebensstil hingehend zu „schocken“. Daher hat der Veganismus auch einen entsprechend schlechten Namen erhalten … er bleibt an der Oberfläche und ist sensationalistisch. Bildlichkeit kann funktionieren, insbesondere wenn sie an ein neues Rahmenwerk gebunden wird … aber die Schaffung neuer konzeptueller Rahmenwerke ist generell genau der Teil, der übersehen wird.

Taktiken die primär Bilder nutzen, erinnern mich an so manche Feminist_innen, die sich auf eine sexualisierte Bildmetaphorik, in der Frauen dargestellt werden, stützen, um Menschen dahingehend zu schockieren, damit sie beginnen sich gegen Sexismus einzusetzen … es ist so … wenn du Menschen kein neues Rahmenwerk bietest, mit dem sie problematische Verhaltensweisen begreifen lernen können, dann ist alles was sie da sehen, einfach noch mehr Bebilderung von jeweiligen Objekten die hier objektifiziert werden.

Ich will damit nicht sagen, dass Leute ihr Verhalten nicht ändern könnten, wenn sie solche Bilder gesehen hätten; was ich sagen möchte ist, dass ich nicht gezwungenermaßen davon ausgehe, dass dadurch ein langfristiger Wechsel stattfinden wird. In unseren Bewegungen konzentrieren wir uns zu sehr auf die Opfer, ohne dabei zu verstehen, weshalb diese Körper eingangs überhaupt zu Opfern geworden sind. Sie sind schließlich nicht über Nacht zu Opfern geworden und wir müssen ebenso konzeptuell arbeiten um dieses Problem zu lösen. Viele Leute begreifen nicht, dass das Denken tatsächlich einen Teil unseres Aktivismus ausmachen sollte. Das Denken wurde schon viel zu lange von der akademischen Welt vereinnahmt und so meinen wir, dass wir Theorie und Gedankenentwicklung eben ‚diesen’ elitistischen Menschen überlassen sollten … wenn genau aber dies doch einen Teil der öffentlichen Domäne ausmachen sollte.

Zu einem großen Anteil ist die Tierunterdrückung nicht allein eine Problematik, die ausschließlich die Tiere anbetrifft. Das Problem liegt vielmehr im weißen menschlichen Überlegenheitsdenken, und so müssen wir den entsprechenden Punkt auch mitsamt seiner Wurzeln ans Tageslicht befördern, bevor wir kontextlos auf die Opfer hyperfokussieren. Doch genau das ist was geschieht: wir sollen die Bildquellen von Tierunterdrückung, ohne irgendeinen Kontext hinsichtlich dessen, wer der echte Unterdrücker ist, anschauen, was aber letztendlich zu so viel Verwirrung im Punkte der Strategien zur Beendigung der Tierunterdrückung führt.

In der Tierrrechts-/veganen Bewegung existieren zahlreiche innere Zwistigkeiten, und es scheint, dass es in den letzten Jahren eher noch schlimmer geworden ist. Hast Du irgendeinen Rat für einen Neuling in der Bewegung, der durch diese Zwiste vielleicht verwirrt ist?

Ich habe eigentlich nicht den Eindruck, dass die internen Streitereien schlimmer werden … ich denke das weiße Überlegenheitsdenken in der Bewegung wird einfach leichter erkennbar. Ich glaube, dass die Menschen in der dominanten Klasse, die sich niemals über marginalisierte Menschen und deren Perspektiven den Kopf zerbrechen mussten (einfach weil das Spiel immer abgekartet war), inzwischen begreifen, dass minorisierte Menschen ihre eigenen Bewegungen betreiben, und dass das bei ihnen ein gewisses Unwohlsein verbreitet.

Viele weiße Menschen beanspruchen einen nicht zu hinterfragenden Besitzstatus über Tierrechte (und Tiere generell). In dem Moment aber, in dem schwarze Menschen Tierkörper (‚animal bodies’) mit in ihre antirassitsichen Bewegungen mit einbeschließen, lassen Weiße ihre soziale Kraft in Erscheinung treten, indem sie unsere Räume kommentieren und unsere Intentionen hinterfragen.

Viele Aktivist_innen in der dominanten Klasse setzen ihre Privilegien dazu ein, andere Aktivist_innen, die abweichende Meinungen haben, zu ignorieren, was furchtbar ist, da eine echte Veränderung nur stattfinden kann, wenn wir plurale Bewegungen und Stimmen zulassen. Wir müssen alle Ideen auf den Tisch bringen, denn die Tierunterdrückung ist ein derart ernsthaftes Problem.

Der Akt dessen, andere, die abweichende Meinungen haben oder andere Strategien verfolgen, zum Schweigen zu bringen, hat einfach nichts mir der Befreiung von Tieren zu tun, sondern dient stattdessen dem Erhalt der gleichen Systeme, die Tiere unterdrückt halten.

Jedem/r, der/die neu ist in der Tierrechtsbewegung, würde ich empfehlen sie gleich wieder zu verlassen (haha). Man braucht diese verkörperschaftlichte, weißgewaschene Bewegung nicht um Tieren zu helfen. Die Vorstellung man müsse sich durch die großen Bewegungen und Organisationen hindurch bewegen um Veränderungen zu bewirken, ist ein kapitalistischer Nonsens. Wenn Du eine Person of Color bist, würde ich dir empfehlen in deiner antirassitsichen Bewegung zu bleiben und nach Wegen zu schauen, wie du die Tierkörper (‚animal bodies’) in deine Analyse mit einbeziehen kannst … versuche nicht dich der weißen Mainstream-Tierrechtsbewegung anzuschließen, denn du wirst dadurch letztendlich nur frustriert und verwirrt.

Teil des inhärenten Problems der Tierrechtsbewegung ist tatsächlich, dass das Weißsein das Rahmenwerk dieser Bewegung bildet. Was wir brauchen, sind Leute, die den Aktivismus für Tiere mit in die anderen Ziele sozialer Gerechtigkeit einbeziehen, statt sich in die nebulöse Blase der Tierrechtsbewegung mit einzubringen. Deshalb bezeichne ich mich auch selbst nicht als Tierrechtsaktivistin. Ich bin eine antirassistische Aktivistin, die für die Tierbefreiung kämpft. Ich wüsste nicht wie ich sonst für Tiere kämpfen sollte, außer aus meiner Sichtweise als schwarzer Frau … ich weiß nicht wie weiße Menschen sich für eine andere Gruppe einsetzen können, ohne ihre eigene Position mitzuberücksichtigen … und das ist weshalb ihre Bewegungen problembehaftet sind.

Was tust Du um ein Burnout zu vermeiden?

Ein Erschöpfungszustand trifft dich in dem Moment, indem du eine bewusst-denkende politische Woman of Color bist, gleich ob du Aktivistin bist oder nicht. Ich bin hauptsächlich deshalb Aktivistin geworden, weil ich die Unterdrückung leid war, und es satt hatte, dass die dominante Klasse mir mein Narrativ und meine Geschichte vorschreiben will. Das war ein Burnout. Ich bin also nicht freiwillig zur Aktivistin geworden, sondern es war ein Akt des Überlebens; ich wurde zur Aktivistin weil ich unter einem Burnout durch den Rassismus und Sexismus in meinem täglichen Leben gelitten habe.

Ich bin mir auch nicht sicher, ob überhaupt eine funktionierende Methode existiert um ein Burnout zu verhindern, solange das weiße, die Überlegenheit in Anspruch nehmende Patriarchat weiter existiert. Um ehrlich zu sein hilft mir oft, aus dem Internet rauszugehen.  Ein Raum außerhalb der digitalen Welt hilft, was die Prioritäten anbelangt, denn man wird dort leicht eingesogen von Dingen die im Prinzip total irrelevant sind. Ich stelle also immer sicher, dass ich viel Zeit offline verbringe.

Noch etwas, das ich gelernt habe um ein Burnout zu verhindern, ist es, nicht davon beeindruckt zu sein, dass weiße Leute meine Arbeit mögen. Wenn Du in einem System einer weißen Überlegenheitsgläubigkeit lebst, dann kann eine Menge an Aufmerksamkeit (seitens dieses Systems) als ein_e Minderheitsangegörige_r sich anfühlen, als seist du nun ganz oben auf … als hättest du das Richtige getan. Ich würde aber jedem Menschen, der einer Minderheit angehört, empfehlen sehr vorsichtig mit solch einem Gefühl umzugehen, weil es dich in eine Situation der Ausbeutung hinein katapultieren kann und du beginnst Dinge umsonst für weiße Leute zu tun. Ich musste wirklich lernen „nein“ zu sagen wenn mir weiße Leute Möglichkeiten in Aussichten stellten, mir aber keinerlei finanzielle Kompensation für meine Arbeit boten. Der leere Ruhm und die Möglichkeit in Erscheinung zu treten, sind immer wieder instrumentalisiert worden um farbige Menschen glauben zu machen, dass die Arbeit die du umsonst tust, eines Tages zu einem Gewinn führt, und normalerweise tut es das nicht.

Als Woman of Color habe ich auch gelernt nicht mehr auf Menschen in der dominanten Klasse zu hören und mich mit ihnen auseinanderzusetzen, wenn sie meine Arbeit und mich kritisieren. Ich habe gelernt den Kanal zu switchen und meine Arbeit einfach weiterzumachen. Wie Toni Morrison gesagt hat, macht Ablenkung einen großen Teil im Rassismus aus, und so lerne ich, Ablenkung zu meiden. Statt auf jede Person, die einen verleumderischen, unwahren Artikel über meine Arbeit oder mich schreibt, zu reagieren, mache ich einfach mit meiner Sache weiter. Ich muss mich ja nicht auf jeden überflüssigen Quatsch einlassen.

Und schließlich ist es wichtig wenn man seine gegenwärtige Arbeit erledigt, über Arbeit, die in der Zukunft getan werden muss, nachzudenken. Es geschieht so leicht, dass man vergisst warum man jeden Tag so hart arbeitet. Und das ist auch warum ich den Afrofuturismus so sehr liebe. Er hat mir dabei geholfen zu verstehen, dass es einen Tag geben wird, an dem ich durchatmen und entspannen kann. Aber der Preis, der dafür gezahlt werden muss, ist der Kampf heute, den ich auch weiter führen werde.

Ich danke Aph sehr für dieses Interview. Schaut euch ihre Seite/Arbeit an bei Black Vegans Rock und Aphro-ism und besucht auch ihre Facebook-Seite.

Anmerkungen zur Übersetzung:

[1] Zur Bedeutung des kanonischen Begriffs des Weißseins: „Weißsein ist die soziale Lokalisierung von Macht, Privileg und Prestige. Es ist ein unsichtbares Päckchen unverdienter Vorteile. Als eine epistemologische Überzeugung ist es manchmal eine Handhabe der Verneinung. Weißsein ist eine Identität, eine Kultur und eine oft kolonialisierende Lebensweise, die Weißen zumeist nicht bewusst ist, aber selten nicht den ‚People of Color’ [Nicht-Weißen]. Das Weißsein trägt auch die Autorität innerhalb des größeren Kulturraums den es beherrscht, indem es die Bedingungen festlegt wie jeder Aspekt von Rasse diskutiert und verstanden wird. Das Weißsein verfügt so über einen Facettenreichtum und ist durchsetzend. Das systemische Weißsein liegt im Mittelpunkt des Problems von ‚Rasse’ innerhalb dieser Gesellschaft.“ Zitiert aus: Barbara J. Flagg, Foreword: Whiteness as Metaprivilege, Washington University Journal of Law and Policy 1-11 (2005).

[2] People of Color, siehe Definition bei Wikipedia.de: https://de.wikipedia.org/wiki/Person_of_color

[3] Habe ‚racial liberation projects’ übersetzt mit ‚antirassistische Befreiungsprojekte’; diese abweichende Übersetzungsweise ergibt sich aus der anderen Verwendung des Begriffs „Rasse“ als politisiertem Begriff in der Diskussion über soziale Gerechtigkeit in den USA.

[4] Siehe auch folgende Präsentation von Anastasia Yarbrough bei der Sistah Vegan Conference 2013: Weißes Überlegenheitsdenken und das Patriarchat schaden Tieren, https://simorgh.de/about/yarbrough_weisssein_patriarchat_tiere/

Alle Links: 21.06.2016

Unser Stand der Dinge: Wie steht es mit der „eigenen Meinungsfreiheit“ und was ist Meinungswirksamkeit?

jesuischar

Unser Stand der Dinge: Wie steht es mit der „eigenen Meinungsfreiheit“ und was ist Meinungswirksamkeit?

Wir – als Gesellschaft – haben im gewissen Sinne alle ein Problem mit der Meinungsfreiheit: Meinungen werden nicht als flexible, sich verändernde Gebilde wahrgenommen, sondern zeigen nur ein grobes politisches (oder nichtpolitisches) Lager an, dem sich jemand zuordnen lässt, und, wir alle (als „Masse“ sozusagen) haben ein Problem mit dem Fokus: alle Welt fokussiert relativ zeitgleich auf ein oder wenige aktuelle Themen, wobei das Problem dabei ist, dass alles, was in dem Moment nicht zu den Mainstreamthemen gehört, sowenig Interesse und Zurkenntnisnahme in der öffentlichen Debatte erhält, als gäbe es überhaupt kategorisch irrelevante Themen und Perspektiven.

In welchem Feld finden sich vor solch einem Hintergrund betrachtet Tierrechte und Antispeziesismus?

Wenn der ethische Veganismus Revolution sein will, kann er sich nicht den bestimmenden politischen Lagern unterordnen, bei denen die Interessen nichtmenschlicher Tiere als relativ unbedeutend für die Gesamtheit ethischer Koexistenz bewertet werden. Ein ethischer Veganismus, die Tierrechtsbewegung und die Antispeziesismusbewegung müssen selbst meinungsbildend sein, in dem Sinne, dass alte politische Kategorien und Lager aufgebrochen und neue Blickweisen aufgezeigt und inspiriert werden. Eine Meinung gilt nichts, wenn sie sich keinen eigenen Raum schafft und nur als Sekundärmeinung betrachtet wird.

Was ist das aber für ein Phänomen, dass „Menschenmassen“ immer zeitgleich auf gleiche Themen anspringen – wobei endlos viele Themen in verschiedener Hinsicht relevanter sein können oder genauso relevant sind, wie die, denen gerade alle Aufmerksamkeit zuteil wird? Es mag meistens letztendlich um Menschenrechtsfragen und Fragen des Weltfriedens gehen, aber es fragt sich, warum Menschenrechte nicht auch Tierrechte und eine reifere Haltung der natürlichen Umwelt gegenüber mit sich vereinbaren lassen könnten.

Wenn auch ein Diktat des Fokus existiert, so können Themenschnittmengen doch einen Ausweg aus den einseitigen Gewichtungen in der Wahrnehmung von Problemkomplexen bieten: kaum ein Thema hat rein gar nichts mit einem anderen zu tun. So wäre die gegenwärtige Debatte über Extremismus und Terrorismus eine Möglichkeit, das Thema der Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft/den Gesellschaften allgemein stärker anzusprechen. Gewalt ist den meisten Problemen, mit denen wir primär zu kämpfen haben (Speziesismus, Rassismus, Sexismus, … usw. usf.) immanent; ein einziges Phänomen solcher Gewalt herauszusondern, führt zu keiner tiefergreifenden Analyse und möglichen fundamentalen Kritik der Psychologie der Gewalt.

TIERAUTONOMIE / Gruppe Messel

Anastasia Yarbrough: Radikale Selbstfürsorge in Erwägung ziehen: Tierrechte – denn das Leben zählt.

maat_io

Farangis G. Yegane: left: Ma’at above the city; right: Io.

Anastasia Yarbrough

Radikale Selbstfürsorge in Erwägung ziehen: Tierrechte – denn das Leben zählt.

Dieser Text als PDF (Link öffnet sich in einem neuen Fenster)

Eine Präsentation gehalten bei: Neither Man Nor Beast: Patriarchy, Speciesism and Deconstructing Oppressions, eine Webkonferenz organisiert von Animal Liberation Ontario, Kanada, die am 23. Februar 2014 stattgefunden hat. Originaltitel: Contemplating Radical Self-Care: Animal Rights as if Life Matters. Übersetzung: Palang L. Arani-May, mit der freundlichen Genehmigung von Anastasia Yargrough.

Mike: Anastasia ist in den Bereichen: Tierrechte, soziale Gerechtigkeit und Umweltschutz seit über zehn Jahren tätig. Sie ist ein ehemaliges Vorstandsmitglied des Institute for Critical Animal Studies, gegenwärtig Mitglied des beratenden Gremiums des Food Empowerment Project und Fellow beim Centre for Whole Communities. Beruflich arbeitet sie in Ashville, North Carolina, an Projekten zur Förderung des ‚community empowerment’. […]

Anastaia: Hallo allerseits! Ich bin also hier um über die Möglichkeiten der radikalen Selbstfürsorge zu sprechen und der Titel meiner Rede ist: „Die radikale Selbstfürsorge in Erwägung ziehen: Tierrechte – denn das Leben zählt.“ Was mich dazu inspirierte diese Rede hier zu halten oder diese Konversation hier zu führen, darüber, was die radikale Selbstfürsorge für uns als Aktivist_innen bedeuten kann, auch in Hinsicht auf die Gemeinschaftsbildung, ist meine Erfahrung als Aktivistin, und im Speziellen ein Praktikum bei einem Schutzhof/Lebenshof und wie ich dort nach Unterstützung suchte, aber nicht wusste, wie ich in solch einem Raum danach fragen könnte.

Die Kultur des Schutzhofes bestand nicht darin, den Aktivist_innen in Sachen derer gegenseitigen Unterstützung zu helfen – auch nicht damit wir dadurch den Tieren vielleicht besser helfen könnten sich selbst helfen zu können – es war eher so, dass Gefühle überhaupt nicht zählten. Was auch immer du fühlen magst, du musst alles runterschlucken und „tun was für die Tiere zu tun ist, denn deren Leid ist viel größer als dein eigenes“. Dagegen ist nichts einzuwenden. Es ist schwer deine Gedanken zu kommunizieren, wenn dieser Art der Kommunikation einfach kein Raum gegeben wird. […]

Ich komme also aus dieser Richtung. Als ich mehr Aktivist_innen begegnete, die ähnliche Erfahrungen nicht allein in Schutz-/Lebenshöfen machten, sondern allgemein in Tierrechtsräumen, verstärke sich in mir der Eindruck, dass dies doch ein Thema ist, über das wir in den Tierrechten sprechen sollten. Was es also heißt uns selbst zu helfen, so dass wir damit auch anderen helfen können. Vor diesem Hintergrund betrachtet sollte klar werden, was ich hier mir ‚radikaler Selbstfürsorge’ meine.

Die radikale Selbstfürsorge und der Gedanke sozialer Gerechtigkeit verbindet eine lange gemeinsame Geschichte, die zurückgeht bis zur abolitionistischen- und zu der Anti-Sklavereibewegung des späten 18. und des frühen 19. Jahrhunderts. Es gibt ein Zitat von einer schwarzen Frau namens Mrs. Wittington, das, so finde ich, wirklich den Geist dessen erfasst, was die radikale Selbstfürsorge in der Bewegung sozialer Gerechtigkeit bedeutet:

Wir wollen leben, und nicht einfach nur so von Tag zu Tag existieren – so wie ihr oder irgendein Mensch es auch will.

Als Tieraktivist_innen können wir diesen Anspruch erweitern auf den Einbeschluss aller Lebewesen. Als Lebewesen wollen wir mit Würde leben, und ich denke, dass wir uns genau dafür einsetzten können – für diese Bedeutung der Würde, nämlich, dass das Leben über die bloße Subsistenz oder das von-Tag-zu-Tag-existieren hinausgeht. Das ist ein zentraler Punkt, und wir sollten dazu imstande sein, dass dies in unserem eigenen individuellen Leben für uns irgendwie fühlbar wird, damit wir das Bewusstsein in unsere aktivistische Arbeit in einer erweitert kreativen und informierten Art und Weise hineintragen können.

Es gibt noch ein anderes sehr schönes Zitat, und zwar von Helen Howard, das ziemlich bekannt ist und das ich wirklich liebe. Es geht um das Überleben und das glückliche Fortbestehen:

Wir kennen die Probleme und wir sehen sie, weil wir so dicht an ihnen dran leben. Wir wissen, dass wir ein Verantwortungsbewusstsein haben, und wir – einige von uns – haben versucht manche der Ziele, die wir selbst nicht erreichen konnten, der Kindern weiter zu vermitteln. Bin ich der-/diejenige, der/die nach meinem Bruder/meiner Schwester schaut? Ich? Ich muss es sein.

Ich finde dieses Zitat in seiner Bedeutung sehr wichtig, denn eine radikale Selbstfürsorge ist nicht nur eine Grundvoraussetzung zur Verbesserung der eigenen Lebensqualität, sie fördert uns auch als Individuen im Sinne einer aktiven Form der Selbstermächtigung.

In der Tierrechten musste ich mir das selbst beibringen, das sich selbst stark machen, um den Mut zu haben ‚da zu sein’, und ‚da zu sein’ wenn es drauf ankommt. Dessen bedarf sich die Zeit dafür zu nehmen und den Raum dafür zu schaffen, um auch nach mir selbst zu schauen zu können. Und dazu braucht es auch eine Gemeinschaft und eine Kultur, die dies unterstützt.

Eine andere Erweiterung der radikalen Selbstfürsorge existiert heutzutage auch in der Form spiritueller Praktiken, die sich mit den Gedanken sozialer Gerechtigkeit verbinden. Es gibt zahlreiche Organisationen und Gemeinschaften, innerhalb der Bewegungen für soziale Gerechtigkeit, die sich damit auseinandersetzten. Viele unterschiedliche spirituelle Praktiken, wie die Meditation, die Kontemplation, Yoga, Rituale, die auf traditionellen afrikanischen Religionen begründet sind, und andere traditionelle Praktiken, sind zu Werkzeugen der Selbstermächtigung für Einzelne und Gemeinschaften geworden. Ich würde auch so weit gehen, zu sagen, dass die radikale Selbstfürsorge ein Thema ist, das auch insbesondere in der Intersektionalität seinen Platz einnimmt – so wie bei Organisationen wie dem Food Empowerment Project, überhaupt innerhalb der Nahrungsmittelgerechtigkeitsbewegung, und auch in der Arbeit von Aktivistinnen wie Beispielsweise [von der Mitbegründerin des VINE Sanctuary] pattrice jones. Von diesem Punkt aus weitergehend will ich beschreiben, was die radikale Selbstfürsorge für die Tierrechte und für Tierrechtsaktivist_innen ganz spezifisch bedeuten kann.

pattrice jones hat vor vier oder fünf Jahren ihr Buch „Aftershock“ veröffentlicht – ich will es hier jetzt nicht im Detail beschreiben, aber es geht mir um etwas, das in diesem Buch steht, und ich empfehle jedem das Buch einmal zu lesen. Es ist ein optimales Werkzeug für Aktivist_innen, spezifisch für Tierrechtsaktivist_innen, um zu lernen, wie wir uns selbst dabei helfen können traumatische Erlebnisse zu verarbeiten – wie das Bezeugen von Bildern und Szenen der Gewalt, Folter und Verstümmelung oder ausgelöst durch die Arbeit in der Tierrettung. Dies ist harte Arbeit. Und zur emotionalen Unterstützung eignet das Buch ganz hervorragend. pattrice jones schreibt darin, und das gefällt mir sehr gut, dass „umso früher wir lernen, die Zeichen von Stress und Depression in uns selbst und bei anderen zu erkennen, und umso früher wir lernen daraufhin zu reagieren, umso stärker kann unsere Bewegung werden.“ In anderen Worten heißt das, wenn du anderen helfen möchtest, so musst du auch auf dich und deinen eigenen Körper achten.

Ich denke das ist ein sehr schönes Statement, indem nicht allein auf die Bewegung als eine kollektive Intention geschaut wird, sondern auch auf die Bewegung als eine Fähigkeit in unserem eigenen Leben, hinsichtlich dessen, wie wir aus eigener Kraft in unserer Welt navigieren, auf sie reagieren, wie wir uns selbst in unserer Welt behandeln, in den Räumen in denen wir uns befinden. Ich denke das ist eine außerordentlich wichtige Praxis für diese Bewegung, die so wichtig ist, wie die Bewegung selbst.

Ich umreiße dieses Thema hier nur und habe leider keine spezifischen Tipps umd Mittel dafür, wie man sich selbst am besten helfen kann und wie die radikale Selbstfürsorge genau auszusehen hätte. Ich möchte eher eine Konversation über dieses Thema halten, da es bislang nicht diskutiert wurde, und, ich möchte unserer Gemeinschaft einen Anstoß dazu geben, einmal darüber nachzudenken, und vielleicht sogar selbst kreative Ideen zu entwickeln, wie wir uns im Ganzen wirklich selbst schätzen lernen können, so dass dies auch eine gemeinschaftstiftende Wirkung haben kann.

Ich selbst sehe die radikale Selbstfürsorge für die Einzelne oder den Einzelnen als einen stark an die Gemeinschaft gebundenen Prozess. Was bedeutet, dass wir den Raum dazu auch wirklich haben sollten, und dass unsere Gemeinschaften hoffentlich stabil genug sind, damit solch ein Schauen nach-sich-selber dort auch eine entsprechend wichtige Funktionen einnehmen kann, statt bloß unangenehme Pflicht oder was gänzlich vernachlässigenswertes zu sein.

Radikale Selbstfürsorge heißt, dass uns unser Leben soviel bedeutet, dass wir begreifen, dass das Leben an und für sich etwas bedeutet. Leben – so, dass jedes Leben zählt. Die Gemeinschaft spielt in der Formung unseres Lebens eine wichtige Rolle und sie kann diesen Wert in uns stärken. Und, obwohl das ein ganz essentieller Punkt ist, und tatsächlich ein Bedürfnis für solch eine radikale Selbstfürsorge existiert, gehen wir diesen Dingen zumeist aber nicht nach. Es ist für uns Aktivist_innen schwer, hart an der Praxis unserer Prinzipien zu arbeiten, wenn wir keine Gemeinschaft haben, die uns darin unterstützt, und wenn wir niemanden haben, an den wir uns vertrauensvoll wenden können oder wenn wir keinen Raum der Teilhabe finden können.

Die radikale Selbstfürsorge gibt uns aber als Individuen die Stärke dazu, uns selbst helfen zu können, so dass wir damit letztendlich auch den Tieren dabei helfen können, sich zu helfen … . Es ist wirklich schwer „da zu sein“ für jemanden, wenn man selbst so erschöpft ist, dass man noch nicht einmal kooperativ mit den Mitaktivist_innen an Kampagnen arbeiten kann. Wir können keine Outreach-Arbeit machen oder vegane Aufklärungsarbeit betreiben, wenn wir dauerhaft unter Schock stehen bzw. zutiefst belastet sind durch all die Bilder und das ganze negative Feedback, das wir im Bezug auf die unfassbar dramatische Notlage der Tiere durch alle Institutionen hindurch erleben.

Damit also umgehen zu lernen und den Raum und die Zeit für eine radikale Selbstfürsorge als Gemeinschaft zu finden, stärkt uns Schritt für Schritt, als die Individuen die wir sind, damit wir so die Kraft, den Mut und die Würde in uns finden können, um einfach da zu sein und zu sagen: „Nein! Ich stehe hierfür auf und ich habe die Kraft das zu tun und es ist gut so. Ich weiß, dass wir uns in unseren Gemeinschaften gegenseitig unterstützen können und ich vertraue darauf.“

Am Aufbau unserer Gemeinschaft zu arbeiten und füreinander da zu sein, ist ein essentieller Teil der Anti-Oppressionsbewegung. Es ist einfach stressig und entmutigend sich mit Menschen zu umgeben, denen dein Wohl als Mit-Tier vollkommen egal ist. Es ist schwer jegliche Form der Arbeit gut zu vollbringen oder unser Leben zu transformieren, wenn wir ständig von anderen Mit-Aktivist_innen entmutigt werden, denen das alles egal ist oder die eine Haltung vermitteln, als ob es nicht in Ordnung wäre, dich als Mit-Tier zu unterstützen. Das darf nicht der Kanon der Tierrechtskultur sein. Es geht uns darum, den Tieren zu helfen, und solch eine Haltung wäre fatal rigide; es lähmt den Geist in solch einem disfunktionalen oppressiven Raum verfangen zu sein.

Ich stelle mir stattdessen eine vollkommen dynamische, tief-verbundene, sich erweiternde Tierbefreiungsbewegung vor, die Aktivist_innen in allen Räumen ihres Aktivismus unterstützt, gleich wo ihr Eintrittspunkt sich befindet – egal woher sie kommen. Die Leute dort abzuholen, wo sie sich gerade befinden und ihre Präsenz zuzulassen, sie echt und ganz sein lassen, während sie diese harte Arbeit vollbringen … und nicht nur immer mit uns befasst zu sein, während wir andere bei dieser schweren Arbeit gerade mal abwerten. Es ist wirklich eine schwere Arbeit.

Einfach da zu sein, seine Gegenwart zu zeigen und offen und ehrlich auf das zu reagieren, was wir jeweils in einem Moment gerade beobachten und erleben, offen und ehrlich auf den Schmerz zu reagieren und die furchtbaren Dinge die Tieren geschehen zu bezeugen, braucht den Mut mit diesen Gefühlen fertig zu werden. Es zertrümmert deinen Geist, das zu fühlen. Und es ist niemals genug, was du tun kannst. Oder ist es die Kultur in der wir uns befinden, die uns das Gefühl vermittelt, dass nichts genug sein kann, dass du letztendlich selbst nichts tun kannst, und dass deine Gefühle dabei eigentlich nicht zählen?

Ich würde also denken, dass solche eine persönliche Arbeit an einer radikalen Selbstfürsorge respektiert werden sollte, und nicht als sinnlos, als überflüssig oder als dem-Aktivismus-nicht-dienlich abgetan werden sollte – insbesondere dann, wenn es eben um Nichtmenschen und Tierrechte geht. Ich stelle mir unter solch einer radikalen Selbstfürsorge vor, dass Aktivist_innen dann wenn es drauf ankommt, die Energie und die Kraft haben sollten für die Tiere aufzustehen, da unsere Gemeinschaften oder die Tierrechtsgemeinschaften unterstützend und für-das-Leben-sorgetragend und das-Leben-bejahend sind – dann und dort, wo wir in kulturell und ökologisch nachhaltig-denkenden und -funktionierenden Gemeinschaften gedeihen und wachsen können. Gemeinschaften, die durch das eigene Beispiel zeigen, dass wir so leben können, dass alles Leben und jedes Leben zählt.

Ich möchte also diese Hoffnung für die radikale Selbstfürsorge hinausschicken, und hoffe, dass dies eine Konversation darüber anregen kann, so dass wir in solch einem Prozess voneinander lernen und Ideen dafür entwickeln können, wie wir dem Leben in den Tierrechten affirmativer gegenüberstehen können: Unseren eigenen Leben und dem Leben der anderen.

Meine Zusammenfassung für diese Präsentation endete mit der Frage: Wie navigieren wir den Sturm der Oppressionen und überstehen das Ganze in einem gesunden Zustand? Ich fände es gut wenn Ihr Euch mal darüber Gedanken macht, was es heißt „durch den Sturm der Oppressionen zu navigieren“, und, was es heißt dies „gesund zu überstehen“. Was ist Gesundheit? Ich will Euch sagen, was ich darüber denke und möchte diese Konversation gerne im Bezug auf diese beiden Punkte weiterführen. Wenn ich hier von „Gesundheit“ spreche, so meine ich die Gesundheit in einem eher ganzheitlichen Sinne. Du bringst Dein ganzes Selbst mit ein und Du bist gut. Du bist einfach gut! Du bist nicht von Selbstzweifeln zerfressen, Du bist ganz bei der Sache und bist dabei in einem gesunden Zustand – ich meine damit eine Art des Zustands der Entfaltung, ein „Erblühen“. Ich liebe den Begriff eines Zustands der Entfaltung (flourishing condition) und Ihr könnt das wie auch immer interpretieren, ich denke es ist eine schöne Art, das eigene Leben und die eigenen Lebenserfahrungen zu beschreiben – so wie etwa: „ich bin in einem blühenden Zustand!“

Stellt Euch also vor, wie wir, wenn wir in solch einer blühenden Verfassung sind, wie dann unser Bezug verläuft zu uns selbst, zu anderen Menschen, zu anderen Tieren, zur Umwelt und zum Raum im allgemeinen – letztendlich also zu unserer ganzen Gemeinschaft. Die radikale Selbstfürsorge wird dann zum fortwährenden Verhandeln und zum fortwährenden Austausch, als ein Weg dessen, wie wir uns in die Dinge einbringen können und wie wir auch wieder aus ihnen hinaustreten können. Wir können so, in unserer Beziehung zu uns selbst im jeweiligen Augenblick, unseren eigenen Takt finden. Wir sollten in unseren Beziehungen den Mut, die Würde und die Kraft besitzen, offen als „echter“ Mensch kommunizieren zu können – d.h. einfach als derjenige der man ist da zu sein, und nicht das Gefühl haben zu müssen, dass man sich hinter irgendjemandem verstecken oder Selbstzensur betreiben müsse.

Es geht um ein beinahe kompromissloses Mitgefühl, um Offenheit und Authentizität. Stellt Euch als Euer echtes Selbst vor, das Ihr wirklich seid und wie Ihr Eure Beziehung zu anderen Tieren herstellt. Wie Ihr durch sie gewinnt, in jedem Moment, ob in der faktischen Begegnung oder indirekt, durch Erlebnisse und Begebenheiten, die wir über sie untereinander kommunizieren: Nachrichten über sie, Geschichten, die von ihnen handeln oder was auch immer wir von ihnen bezeugen, was wir von ihnen vermittelt bekommen.

Das kommt von ihnen! Und die Gedanken, die ihr habt stammen also auch von ihnen. Die Wichtigkeit dies erkennen und differenziert erleben zu können, ist wichtig. Dabei müssen wir Geduld mit uns selbst dazu haben, eine noch bessere Verbindung einzugehen und noch genauer und tiefgründiger zu schauen, wo all diese unterschiedlichen Wesen denn eigentlich genau herkommen.

Die Geduld mit sich selbst ist sehr wichtig, und die Güte mit sich selbst, denn dies ist auch Teil Deiner Arbeit. Eure Beziehung zu eurer Umwelt und den Räumen, in denen ihr Euch bewegt, beinhaltet die allgemeine Beziehung zum Ort und wie wir mit unserer Umwelt umgehen – ob das in einer veganen Boutique ist oder bei uns zuhause, wir bewegen uns darin, leben darin. Unsere Beziehungen zu unseren Nachbarn, unsere Beziehungen überhaupt, unsere ökologische Beziehung zum Ort, drückt sich in der einen oder anderen Weise aus. Und zwar auf der ganzen Ebene.

Zu all dem als ganzes Wesen einen Bezug herzustellen, ist etwas Entscheidendes, für einen selbst, für die Mitmenschen und für die anderen Tiere, die ebenfalls an diesen Orten leben. Der Bezug muss positiv aufgebaut werden. Man sollte seine nichtmenschlichen Nachbarn eben so kennenlernen, jedes Individuum für sich, und alle und alles wiederum im Bezug zur ganzen Gemeinschaft. Und mit der ganzen Gemeinschaft meine ich wirklich die Interspezies-Gemeinschaft und die ökologische Gemeinschaft, „den Boden auf dem wir gehen“ quasi, so auch die Gemeinschaft, mit der wir vielleicht häufiger zusammen unsere Mahlzeiten teilen.

Übung spielt auch in diesem Zusammenhang eine Rolle, und zwar dabei, wie wir all die verschiedenen Aspekte unseres Lebens (das heißt auch unseres ganz individuellen Lebens) zusammenfügen, und dabei Schritt für Schritt durch diese Monströsität hindurch navigieren. Vielleicht sollte ich hier nicht von Monströsität sprechen, sondern davon, wie wir Unterdrückung navigieren und dabei immernoch uns selbst und unseren Beziehungen treu bleiben, ganz dabei bleiben, die Bodenhaftung nicht verlieren, die Echtheit und eine umfassende Liebe bewahren.

Das klingt vielleicht romantisch wenn ich das so sage, aber ich lerne mit dieser Art der Perspektive jeden Tag etwas darüber hinzu, wie ich in der Welt navigiere und mir dabei selbst als Aktivistin meine Kraft verleihe. Ich denke, dass die radikale Selbstfürsorge bedeutet, zu den Wurzeln des eigenen Ich zu finden und herauszufinden, was es ist, das wir brauchen um die Dinge zu überstehen und damit wir wachsen können. Sich in gegenseitigen, respektvollen, gerechten, liebenden Beziehungen mit anderen zu befinden, ist meiner Meinung nach eine Praxis, die sich von Tag zu Tag entwickelt. Ich denke es hilft, diese Geflechte als Praxis zu behandeln, um sich die Augeblicklichkeit dabei vor Augen zu halten und um dabei immer auch zu sehen, wie ich an jedem gegebenen Tag die Beziehung mit mir selbst und die Beziehung zu den anderen herstelle:

–         Bin ich einfach nur frustriert, bin ich wütend, betreibe ich ungerechtfertigte Anschuldigungen anderer, hab andere Leute satt oder versteh ich einfach nicht worum es gerade geht?
–         Wie stelle ich meinen Bezug zu anderen Tieren her?
–         Mit wem habe ich an diesem Tag in meinem Leben interagiert?
–         Weiß ich überhaupt, was mit den Tieren, mit denen ich in einer Gemeinschaft lebe, los ist?
–         Habe ich ein gutes Verhältnis mit meiner Home Base?
–         Was ist meine Beziehung mit der Umwelt und dem Raum gerade jetzt?
–         In welchem Bezug stehe ich zu dem Ort, an dem ich lebe, und wie gehe ich mit diesem Ort um, wie bewege ich mit an diesem Ort?
–         Wie ist meine Beziehung zur ganzen Gemeinschaft?
–         Fühle ich etwas, stehe ich in Verbindung? Fühle ich die Sonne auf meinem Gesicht?
–         Bin ich in Harmonie mit all meinen Bezugspunkten/Beziehungen?

Diese Art der Fragestellung hilft mir darin, mich zu suchen und zu finden, um mich daran zu erinnern, dass all dies Leben ist, und dass das Leben zählt.

Man kann als Aktivist_in nicht stark, empowered und in seiner Hilfeleistung effektiv sein, wenn man mit seinem Leben nicht im Einklang steht. Ich möchte daher abschließend nochmal diesen Punkt betonen und hoffe, dass wir verstärkt einen Dialog über die Wichtigkeit einer radikalen Selbstfürsorge als Praxis auf der individuellen Ebene, so wie auch auf der Gemeinschaftsebene, führen können. Es geht also um die Praxis der Kultivierung lebensbejahender Werte. Es reicht nicht aus, die Muster von Unterdrückung zu erkennen, dann aber keine Werkzeuge an der Hand zu haben oder keine ausreichende Bodenhaftung zu haben, um diese Problemkomplexe umfassender zu begreifen und in Konsequenz auf sie zu handeln. Ich denke diese Praxis kann uns dabei helfen, mit den konkreten, gegebenen Problemen im jeweiligen Moment in einer lebensbejahenden Art und Weise umzugehen.

Ich möchte meine Rede damit an dieser Stelle enden lassen. Ich denke ich habe genug gesagt. Die Diskussion über dieses Thema scheint mir in Hinsicht auf unsere Gemeinschaft wirklich wichtig. Ich würde daher nun gerne einige Eurer Fragen beantworten. Mike können wir zum Diskussionsmodus wechseln?

Mike: Ja sicher, das war toll. Danke Anastasia!

Frage 1: Hast Du den Eindruck, dass Deine Arbeit als Aktivistin, seitdem Du diese radikale Selbstfürsorge für dich anwendest, einfacher geworden ist? Und welche Phasen waren für Dich die schwierigsten?

Frage 2: Könnte man sagen, dass aktiv und informiert zu sein, an und für sich bereits eine Handlung radikaler Selbstfürsorge ist?

Zu der ersten Frage, ob dies mir emotional bei der Arbeit als Aktivistin geholfen hat, möchte ich sagen: Ja, in einem gewissen Maße hat es das. In dem Sinne, dass ich über die Zeit auf diese Weise mehr Widerstandsfähigkeit entwickelt habe, so dass ich genau darum Bescheid weiß, welche der schwierigen Hauptarbeitsschwerpunkte ich zu einem bestimmten Zeitpunkt angehen will, und dass ich auch den Mut dazu habe, die für mich damit verbundenen Problematiken mit anderen zu besprechen.

In anderer Hinsicht gibt es da schon noch Probleme. Viele Punkte, die ich hier angeschnitten habe, drücken Ziele und Ideale aus und entsprechen nicht so ganz dem, was wirklich geschieht – vor allen Dingen nicht auf der Gemeinschaftsebene.

Ich habe die Kraft einer radikalen Selbstfürsorge leider noch nicht innerhalb von Aktivist_innen-Gruppen erleben können. Und das ist mit der Zeit auch nicht leichter oder besser geworden. Die Aktivist_innen-Gruppen sind imemrnoch vorwiegend ein Raum der Rängeleien und des Konflikts, ohne dass sich jemals dabei vernünftige gemeinsame Lösungen finden würden. Das ist schon ermüdend und stellt eine eher unangenehme Herausforderung dar.

Was die zweite Frage betrifft, ob ich denke, dass Aktivismus und Informiertheit an erster Stelle überhaupt selbst eine Form der radikalen Selbstfürsorge darstellen? Vielleicht. Informiertheit in dem Sinne, dass man fähig ist und den Mut dazu hat, diesen Grad an Grausamkeit zu bezeugen; diese Art der Informiertheit, als eine aktive Form radikaler Selbstfürsorge … ich würde sagen, dass das definitiv ein Akt des vehementen Mitgefühls ist, aus der die radikale Selbstfürsorge lernt. Aber ich würde nicht sagen, dass es an sich schon eine komplette Art radikaler Selbstfürsorge ist. Die radikale Selbstfürsorge orientiert sich mehr an den Verläufen, an Prozessen und bedarf des Feedbacks im Sinne des: „Ich erhalte diese Information von der Welt und nun ist ‚radikale Selbstfürsorge’ das, wie ich darauf reagiere. Gehe ich einen Schritt zurück? Habe ich den Mut an dieser Stelle überhaupt Fragen zu stellen? Und wenn nicht, woraus besteht meine harte Arbeit eigentlich, oder was ist die Arbeit, die ich leisten müsste um mich damit sicherer zu fühlen, stärker, und um besser mit diesen Gefühlen umgehen zu können?“

Mit Gefühlen meine ich, dass wenn ich Handlung ergreifen will, zum Beispiel gegen den illegalen Handel mit wildlebenden Tierarten, aber das Problem ist so riesig und gigantisch, und die Bilder, die ich sehe sind so furchtbar und kaum zu ertragen, und ich höre niemals, dass etwas Gutes geschieht in der Sache – das überrollt einen einfach. Wenn ich dann nicht davon überzeugt bin, dass ich etwas auch von dort aus tun kann, wo ich gerade bin, dann sollte meine harte Arbeit nicht gerade an dieser Stelle zum Einsatz kommen. Der Akt der radikalen Selbstfürsorge ist, zu wissen, immer wieder zu evaluieren und zu re-evaluieren, wo mein Einsatz mich erwartet.