pattrice jones: Intersektionalität und Tiere

Mud season at Vine Sanctuary

Intersektionalität und Tiere 

pattrice jones

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Eine allgemeine Information zum Thema: Intersektionalität und Tierrechte von pattrice jones, Mitbegründerin des VINE Sanctuary: ‚Intersectionality and Animals’, Quelle: http://www.nlg.org/sites/default/files/intersectionalabc_0.pdf, (2.3.14). Übersetzung: Palang L. Arani-May, mit der freundlichen Genehmigung von pattrice jones. Eine alternative Version des Originaltextes befindet sich auf: http://blog.bravebirds.org/archives/1553 (2.3.14).

Die Rechtsgelehrte Kimberlé Crenshaw hat den Begriff der „Intersektionalität“ geprägt, als eine Form in der die komplexen und sich unterschiedlich zusammensetzenden Interaktionen zwischen Formen von Unterdrückung verstanden und besprochen werden können. In der gleichen Weise, wie Landvermesser Trigonometrie beherrschen müssen und Ingenieure Differential- und Integralrechnung brauchen, so brauchen Aktivist_Innen die Intersektionalität als konzeptuelles Werkzeug. Ohne dieses Werkzeug ist es nicht möglich, das Problem, das wir lösen wollen, genauer einzuschätzen und es bleibt schwierig, effektive Strategien zu entwickeln.

Die Wechselwirkungen zwischen den Unterdrückungsmechanismen, die Rasse, Geschlecht und Klasse betreffen, bildeten den Ausgangspunkt in den Untersuchungen über Intersektionalität. Seither haben wir viel darüber gelernt, wie diese mit weiteren Faktoren, wie beispielsweise Behinderung oder Nationalität, interagieren. Eine jüngere Entwicklung ist, dass wir nun langsam erkennen, wie diese sich überschneidenden Vorurteile die menschliche Schädigung und Ausbeutung der Natur sowohl ermöglichen als auch verstärkend darauf einwirken. Und heute sehen wir uns mit der dringenden Aufgabe konfrontiert, die nichtmenschlichen Tiere mit in unsere intersektionalen Analysen einzubeziehen.

Aktivist_Innen aus den Bereichen der sozialen- und der Umweltgerechtigkeit müssen lernen zu verstehen, welche grundlegende Rolle der Speziesismus auch in den Unterdückungsformen auf der Intra-Spezies-Ebene spielt. Er legt die Konditionen fest und trägt dazu bei, die vielen Mechanismen aufrecht zu erhalten, mit denen die Menschen einander und die Erde ausbeuten. Gleichzeitig müssen Tierverteidiger_Innen lernen zu verstehen, dass jeder Akt der Gewalt oder der Ungerechtigkeit gegenüber Tieren, innerhalb sozialer und materieller Umstände stattfindet, die ohne ein Verständnis über Intersektionalität nicht hinreichend addressiert werden können.

Mit der Ausdehnung auf eine Einbeziehung von Speziesismus und Tierausbeutung in die Reihe oppressiver Ideologien und Praktiken als Gegenstand der Auseinandersetzung, bietet die Intersektionalität, sowohl den Aktivist_Innen aus dem Bereich der Gerechtigkeitsbewegung für Tiere, als auch denen, die aus den Bereichen sozialer- und Umweltgerechitgkeit kommen, ein tieferes und vollständigeres Verständnis der Systeme, innerhalb derer die jeweiligen Probleme eingebettet sind. Die Möglichkeiten zur Konzipierung und Umsetzung effektiver Strategien werden dadurch erhöht. Ein weiterer vorteilhafter Zusatz ist, dass durch das erweitere Verständnis über die Intersektionalität, neue Wege zur Zusammenarbeit und zum gemeinsamen Wirken, über die Grenzen der einzelnen Bewegungen hinweg, erschlossen werden können

Grundlegende Erkenntnisse

Crenshaw hat das Wort „Intersektion“ [im Englischen bezeichnet eine „intersection“ auch eine Straßenkreuzung“] sehr zutreffend gewählt. Wenn du inmitten auf der Kreuzung zwischen der Main Street und der First Avenue stehst, dann ist es nicht möglich zu sagen, auf welcher der beiden Straßen du dich eigentlich genau befindest – du befindest dich auf beiden gleichzeitig. Wenn man sich Fälle von Diskriminierung gegen farbige Frauen an ihrem Arbeitsplatz anschaut, so bemerkte Crenshaw, dass es häufig nicht möglich ist, zu ermitteln, ob die Diskriminierung aufgrund rassischer oder geschlechtlicher Vorurteile stattfindet – es ist beides zugleich, in Legierungen, die nicht durch einen einfachen Zusatz in vorhersehbarer Weise reagieren.

Die Wechselwirkungen von Rassismus und Sexismus scheinen eher multiplikativ als additiv zu funkionieren. Die Funktionen dieser Interaktionen deaggregieren nicht. Rassische Stereotypien sind genderspeziefisch, und Gewalt gegen Frauen wird durch Rassismus begünstigt.

Sexismus, Rassismus und andere Formen diskriminatorischer Vorurteilshaltungen unter Menschen, tragen nicht nur gemeinsame Züge und teilen gemeinsame Ursachen, sie interagieren auch in sich gegenseitig bestärkender Weise. Leicht nachvollziehbar verdeutlicht das Suzanne Pharrs Beobachtung, dass Homophobie eine „Waffe des Sexismus“ ist. Während es sicherlich stimmt, dass einiges an Vorurteilen gegen Menschen, die sich als LGBTQ definieren, auf Ignoranz zurückzuführen ist, so ist die strukturelle Funktion der Homophobie (und ebenso der Transphobie) die, ein Gendersystem aufrecht zu erhalten, in dem der Mann hierarchisch weiter oben angesiedelt wird. Du musst noch nicht mal schwul sein, um als schwul diskriminiert zu werden und du musst dich auch nicht als transsexuell definieren, um ein Opfer von Transphobie zu werden. Alles was du tun musst, um angreifbar im Sinne dieser Vorurteilshaltungen zu sein, ist, gegen die Regeln der Gender-Rollen zu verstoßen. Das heißt, dass die LGBTQ-Befreiung ein notwendiges Projekt für den Feminismus darstellt, und auch, dass die LGBTQ-Befreiung solange nicht wirklich auf den Weg gebracht werden kann, bis wir es nicht schaffen, den Sexismus aufzulösen.

Ökofeministische Gelehrte wie Lori Gruen und Marti Kheel haben erklärt, dass eine „Logik der Dominierung“ das eurozentrische Denken nicht nur im Bezug auf Rasse und Gender, sondern auch im Bezug auf die Erde und die Tiere strukturiert. Diese Logik unterteilt die Welt künstlich (und falscherweise) in einander entgegengesetzte Dualismen – männlich versus weiblich, Mensch versus Tier, Kultur versus Natur, Vernunft versus Gefühl, usw. – und spricht der einen Seite solch eines Paares eine Übergeordnetheit zu. Die Bedingungen jeder jeweiligen Seite der hierarchichen Kluft sind untereinander verbunden: Männer werden als rationaler betrachtet, Frauen und farbige Menschen rückt man näher zur Natur, Gruppen von Menschen werden gedemütigt, indem man sie mit Tiernamen benennt.

Wenn du eine Struktur dekonstruieren willst, dann musst du die Bindeglieder defunktionalisieren. So müssen Aktivist_Innen die einen möglichst großen Effekt erzielen wollen, sich darauf konzentrieren an den Schnittstellen, den Intersektionen, zu arbeiten, idealerweise so, dass ein ein spürbarer Fortschritt bei einem spezifischen Problem erzeugt wird, während gleichzeitig, parallel dazu die Struktur des sich überkreuzenden Unterdrückungssystems dabei unterminiert wird.

Wenn es nicht möglich ist, solch eine Intersektion zu ermitteln, an der man ansetzten kann, dann sollte die Intersektionalität nichtsdestotrotz bei der Wahl der Taktiken und der Rhetorik im Bewusstsein bleiben, damit das eigene Ziel nicht unbeabsichtigt untergraben wird, indem man aus Versehen an der Unterdrückung anderer Teil hat.

Seine intersektionale Arbeit vorbereiten

Jedes neue Werkzeug erfordert etwas Praxis in der Anwendung. Das trifft im Falle der Intersektionalität ganz besonders zu, indem wir herausgefordert sind, Muster zu verstehen, Beziehungen zu erkennen und komplexe Interaktionen zwischen verschiedenen Variablen analysieren zu müssen. Diejenigen von uns, die ihre Ausbildung in den USA oder in Europa durchlaufen haben, wurden dazu erzogen, genau in die andere Richtung zu denken, und sie müssen daher eine affirmative Anstrengung unternehmen, um in Begriffen der Gemeinsamkeiten statt der Unterscheidungen, der Kontexte statt der Abstraktionen und der Systeme statt der Individuen zu denken.

Hier sind einige einfache Beispiele zur praktischen Ausübung:

–         Stellt euch zwei Formen der Unterdrückung vor, wie etwa den Sexismus und den Speziesismus, und versucht einmal zu beschreiben, in welcher Weise diese beiden Unterdrückungsformen sich überschneiden.

–         Denkt an eine Problematik, wie die der Gefängnisse oder Zoos, und versucht zu identifizieren, wie viele Formen der Oppression sich innerhalb derer überschneiden.

–         Stellt euch eine Unterdrückungstaktik vor, wie etwa die Stereotypisierung oder Zwangsarbeit, und versucht die Art und Weisen zu identifizieren, in der solch eine Taktik in unterschiedlichen Formen der Unterdrückung angewendet wird.

–         Denkt an das Ziel einer Unterdrückungsform, wie etwa die Profitnahme oder die Reproduktionskontrolle, und überlegt wie dieses über Wege unterschiedlicher Formen von Unterdrückung erzielt wird.

–         Stellt euch die Auswirkungen einer Unterdrückungsform vor, so wie die emotionale Gleichgültigkeit, die notwendig ist zum Fleischessen. Versucht die Art und Weisen zu identifizieren, in denen solch eine Auswirkung einen Rückkopplungseffekt hat, der sich unterstützend auf andere Unterdrückungformen auswirkt.

Bitte bedenkt, dass ihr euch, während ihr versucht diese Übungen durchzuführen, dazu auch etwas informieren müsst. Ihr könnt nicht von euch erwarten, die Beziehungen zwischen Speziesismus und Rassismus beispielsweise zu erkennen, wenn ihr eigentlich gar nicht viel über Rassismus Bescheid wisst!

Vorläufige Ergebnisse

Aktivist_Innen haben eigentlich gerade erst damit begonnen, die Intersektionen zwischen Speziesismus und anderen Formen der Unterdrückung zu skizzieren. Doch bereits jetzt sind die Ergebnisse spannend und potentiell sehr nützlich. Hier sind nur einige Beispiele davon, was wir dabei lernen können, wenn wir die Übungen oben anwenden, bei denen wir über die Beziehungen zwischen der Ausbeutung von Tieren und sozialer- und Umweltungerechtigkeit nachdenken:

–         Das Dreigestirn der Rechtfertigungsversuche der Tierausbeutung – wer die Macht hat, hat auch die Rechte; wir haben Fähigkeiten, die nicht; und, es ist Gottes Willen – sind allesamt Scheinargumente, die auch eingesetzt werden um soziale Ungerechtigkeiten wegzureden (oder sich dem Rechtfertigungsdruck jeglicher Kritik zu entziehen). Diese Arten des Denkens führen letztendlich zu Kriegen, zu Diskriminierungen und den weiteren Übeln.

–         Sexismus und Speziesismus sind über eine solange Zeitspanne hinweg miteinander verquickt – bis zurück zu den Zeiten in denen sowohl Töchter als auch Milchkühe beide als Besitz des männlichen Haushaltsvorstands betrachtet wurden – so dass keines der beiden voll verstanden werden kann, ohne den Bezug zum anderen herzustellen.

–         Das, was man als „Reprozentrismus“ [die Fokussierung auf die Reproduktion] bezeichnet, ist nicht nur ein Grundprinzip in der Tierausbeutung, sondern es spielt auch eine zentrale Rolle im Patriarchat und im Kapitalismus. Die unaufhörliche Reproduktion (von Menschen, Tieren und Gütern) hat uns bis an den Rand einer planetaren Katastrophe gebracht.

–         Das psychologische Manöver, mit dem die Menschen sich höher gestellt haben als, und entfernt haben aus den Ökosystemen, um beides Land und Tiere in „Besitz“ umzuwandeln, der gekauft und verkauft werden kann, befestigt nicht nur die speziezistische und environmentale Plünderungsmentalität, auch führt diese Psycholgie zu der Art von Individualismus und Entfremdung, die man als Schlüsselfaktoren des Kapilalismus und anderer Problematiken bezeichnen kann.

–         Speziesismus erscheint uns als etwas so normales, dass das Spezies-Privileg dadurch noch unsichtbarer funktioniert, als das Weißseins- oder das Männlichkeitsprivileg. Die Unsichtbarkeit dieses Privilegs ist damit eine Angelegenheit gemeinsamen Interesses für unterschiedliche Bewegungen.

–         Schlachthausarbeiter, Vivisektoren und selbst die durchschnittlichen Fleischesser, sagen oft direkt, dass sie über das Leid, das sie verursachen, „einfach nicht nachdenken“. Die geistige Gewohnheit des Nichtnachdenkens-über-Leid, begünstigt auch soziale Ungerechtigkeit, so wie wenn Konsumenten einfach nicht über das Leid unterbezahlter und sogar versklavter Arbeiter nachdenken möchten.

Hier sind einige der Art und Weisen, in denen sich spezifische Formen der Tierausbeutung mit sozialer- und Umweltungerechtigkeit überschneiden:

–         Die Milchproduktion bedarf der Zwangsschwängerung von Kühen, deren Kälber ihnen kurz nach der Geburt wieder weggenommen werden. Diese physische und emotionale Gewalt an weiblichen Tieren zur Generierung von Profiten, bringt  Produkte hervor, die durch die äußerst Machtvolle und hochsubventionierte Milchindustrie z.B. in den USA, das ganze öffentliche Schulsystem beliefern, obgleich die Mehrheit farbiger Kinder laktoseintolerant ist.

–         Zoos waren anfänglich Repräsentativprojekte herrschender Imperien, in denen man Menschen und Tiere zusammen ausstellte. Weitherhin sind Zoos ein Zeugnis der ultimativen menschlichen Hubris, indem dort postuliert wird, man könne Ökosysteme künstlich nachspielen – eine Afrikanische Savanne in Philadelphia! Ein arktisches Meer in Florida! – und gefährdete Tierarten dadurch „retten“, indem man sie nicht in ihre Habitate zurückführt, sondern deren Reproduktion kontrolliert.

–         Zirkusse und andere Einrichtungen, in denen Tiere zu Unterhaltungszwecken eingesetzt werden, sind ebenso Spektakel menschlicher Kontrolle über die Natur. Viele solcher Veranstaltungen, wie Hahnenkämpfe und Rodoes, demonstrieren auch gesellschaftlich konstruierte Männlichkeit.

–         Die ganz unmittelbare Teilnahme an der Ausbeutung von Tieren, produziert normalerweise nicht nur emotionale Gleichgültigkeit, sondern zugleich auch die Verachtung für Schwache. So sehen wir in Gegenden, in denen industrielle Agrargroßbetriebe und Schlachthäuser angesiedelt sind [und Menschen ihre Arbeitplätze dort finden], gehäuft Fälle von Gewalt gegen Partner und Kinder. Umweltungerechtigkeit siedelt die stark schädigenden Produktionsstätten zumeist in Regionen geringen Einkommens und Gemeinschaften farbiger Menschen an.

Intersektionaler Aktivismus in der Praxis

Einige Beispiele des sich an den Schnittstellen bewegenden Tierbefreiungsaktivismus:

Wir vom VINE Sanctuary haben unsere Pionierarbeit in der Rehabilitierung von Kampfhähnen dazu eingesetzt, den Einsatz von Tieren in der sozialen Gender-Konstruktion zu beleuchten und kritisch zu hinterfragen. Auch haben wir unsere Position als eine LGBTQ-betriebene Organisation geltend gemacht um das „Queering“ in der Tierbefreiung zu fördern.

Das Food Empowerment Project bemüht sich um Zugangsmöglichkeiten zu frischen Erzeugnissen und Milchalternativen für Gemeinschaften farbiger Menschen.

Das Sistah Vegan Project unterstützt den Veganismus als eine antikoloniale, antirassistische und feministische Praxis.

In Polen haben ökofeministische Tierrechtsaktivist_Innen, die mit der Organisation Otwarte Klatki zusammenarbeiten, sich aktiv gemeinsam mit den Bewohner von mehr als 20 Orten in ländlichen Gebieten einsetzt, damit die lokalen Gemeinden eigene erfolgreiche Kampagnen gegen industrielle Pelzfarmen durchführen konnten.

In Brasilien hat sich die Tierrechtsorganisation VEDDAS mit der indigenen Bevölkerung zusammengeschlossen, um eine gemeinsame Kampagne gegen einen geplanten Großstaudamm durchzuführen.

Und schließlich, einige Beispiele von Projekten, die im Bereich der Intersektionen des Speziesismus mit anderen Formen der Ungerechtigkeit, durchgeführt werden könnten:

–         Nahrunsmittelgerechtigkeits- und vegane Organisationen könnten kollaborativ arbeiten, um den Zugang zu frischen Erzeugnissen und Alternativen zu Milchprodukten in Gemeinschaften mit geringem Einkommen zu verbessern.

–         Feministische- und Tierrechtsaktivist_Innen könnten darin zusammenarbeiten sicherzustellen, dass jedes Frauenhaus mit einem Tierheim kooperiert, um sich in gegebenem Falle auch um die Haustiere zu kümmern, die häufig selbst misshandelt wurden, und die oft auch den Grund dafür bilden, warum Frauen damit zögern,  Schutz in einem Frauenhaus aufzusuchen.

–         Aktivist_Innen aus den Bereichen der Behindertenrechte und Tierversuchsgegner könnten zusammenarbeiten, um gemeinsam Kampagnen zu starten gegen die kommerzielle Tierversuchsindustrie, die Tiere ausbeutet während sie keine Sicherheit oder Effizienz von Medikamenten gewährleisten kann.

–         _______ <=== Und hier findet deine Idee ihren Platz! Überleg einmal. Versuch es. Und erzähl uns davon!

pattrice jones is ein Gründungmitglied des VINE Sanctuary: http://www.bravebirds.org/