Barbara Noske: Die Tierfrage in der Anthropologie. Ein Kommentar.

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Jahrgang 3, Nr. 1, Art. 1, ISSN 2363-6513, Dezember 2016

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Die Tierfrage in der Anthropologie: Ein Kommentar

Barbara Noske

Titel der englischsprachigen Originalfassung: The Animal Question in Anthropology: A Commentary. Der Artikel wurde der Zeitschrift Society & Animals in der Ausgabe: Vol. 1 No. 2, 1993 veröffentlicht. Übersetzung aus dem Englischen: Gita Yegane Arani. Mit der freundlichen Genehmigung von Dr. Barbara Noske.

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Zusammenfassung: Anthropologen und Soziologen, so wie Wissenschaftler in den Humanwissenschaften generell, gehen davon aus, dass Sozialität und Kultur nicht außerhalb des menschlichen Bereichs existieren. In der Anthropologie stehen Tiere nicht nur als Objekte da, denen gegenüber menschliche Subjekte sich verhalten, sondern sie stehen auch als Antithese da für all das, was den Menschen den Sozialwissenschaften zufolge, menschlich macht. Die Sozialwissenschaften gebären sich als die Wissenschaften der Diskontinuität zwischen Menschen und Tieren. Unsere Kontinuität zu Tieren wird als ein rein materieller Rest einer prähistorischen Vergangenheit angesehen. Im besten Falle wird unsere „Animalität“ (unser Körper) als materielle Basis betrachtet, aus der sich unser echtes „Menschsein“ (Verstand, Sozialität, Kultur, Sprache) entwickeln konnte. Ironischerweise gravitieren viele Wissenschaftler um essenzialistische Positionen (wie Rasse und Geschlecht), die sie selbst in Hinsicht auf den Menschen ablehnen, sobald aber eine andere biologische Kategorie in Sicht kommt, und zwar unsere Speziesbarriere, wird eine biobehavioristische wissenschaftliche Charakterisierung in den Begriffen beobachtbarer Verhaltensweisen und Mechanismen dargestellt, von denen ausgegangen wird, dass diese im genetischen Aufbau der Tiere eincodiert sind. Biologie und Ethologie sind irgendwie zu den Wissenschaften über die Tierheit (animalkind) geworden. Es ist von diesen Wissenschaften woher die Sozialwissenschaftler (die Wissenschaften über die Menschheit) ihr eigenes Bild von Tieren und Tiersein unkritisch und zum größten Teil unbeabsichtigt beziehen. Tiere sind an biologische und genetische Erklärungen gebunden worden. Dies hat zu einer „Anti-Tier Reaktion“ unter den Gelehrten in den Humanwissenschaften geführt. Sie erklären geradewegs, dass die Evolutionstheorie der Interpretation von Tieren und tierischer Handlungen genüge tut, aber nicht für Menschen. Fast kaum ein Kritiker biologischen Determinismusses wird fragen, ob Tiere wirklich in engen genetischen und biologischen Begriffen erklärt werden können.

Schlagworte: Anthropologie, Humanwissenschaften, Speziesismus, Anthropozentrismus

TIERAUTONOMIE,  Jg. 3 (2016), Heft 1.

Barbara Noske: Die Tierfrage in der Anthropologie: Ein Kommentar

Anthropologen definieren ihre Disziplin, die Anthropologie, allgemein als die Studie über den Anthropos (den Menschen) und halten es für völlig natürlich dem nichtmenschlichen Bereich des Tierreichs wenig oder gar keine Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Selbstverständlich kommen Tiere in anthropologischen Studien zwar vor, aber sie kommen dort vor als Rohmaterial menschlicher Handlungen und menschlichen Denkens. Die Anthropologie hat eine lange Tradition darin, die Formen zu untersuchen in denen Gruppen von Menschen und Kulturen mit ihrer natürlichen Umwelt, einschließlich anderer Tierspezies, umgehen, und in welcher Art sie sie betrachten. Solche Studien beschränken sich normalerweise auf Menschen in ihren Eigenschaften als Handlungsträger und Subjekten, die mit Tieren umgehen und über Tiere nachdenken.

Infolgedessen besteht die Tendenz Tiere als passive Objekte zu porträtieren, die in menschliche Handlungen einbezogen sind, über die gedacht wird und gegenüber denen Gefühle existieren. Weit davon entfernt als Handlungsträger und Subjekte in ihrem eigenen Recht verstanden zu werden, werden die Tiere selber von den Anthropologen praktisch übersehen. Sie und ihre Beziehungen zu Menschen werden normalerweise nicht als des anthropologischen Interesses wert betrachtet. Die meisten Anthropologen würden es für völlig natürlich halten, wenig oder keine Aufmerksamkeit darauf anzuwenden, wie Dinge für die involvierten Tiere aussehen, riechen, sich anfühlen, schmecken oder klingen. Folglich spielen Fragen, die für den Animal Welfare in der westlichen Welt oder in der Dritten Welt von Bedeutung sind, im anthropologischen Denken selten eine Rolle.

Anthropologen behandeln Tiere als integrale Teile menschlich ökonomischer Konstellationen und menschlich-zentrierter Ökosysteme: Tiere sind ökonomische Ressourcen, Gegenstände und Produktionsmittel, die dem menschlichen Gebrauch dienen.

Auf Tieren basierende Ökonomien wurden extensiv von Anthropologen erforscht, die die Hauptfrage darin sahen, ob verschiedene menschliche Praktiken mit Tieren ökonomisch oder ökologisch rational sind (von einem menschlichen Standpunkt aus gesehen) oder nicht. Nur in denjenigen Fällen, in denen halbwilde Tiere noch etwas an Kontrolle über ihren eigenen Verbleib behalten haben, schauen Anthropologen manchmal auf die Vorteile für die Tiere bei existierenden Mensch-Tier Arrangements.

Die Disziplin der Anthropologie ist unverhohlen anthropozentrisch. Im besten Falle werden Menschen und Tiere als Interagierende innerhalb eines gemeinschaftlichen Ökosystems gefasst, wobei der Schwerpunkt der Aufmerksamkeit der Anthropologen auf das Verstehen der Menschen, eher als auf das Verstehen der Tiere gerichtet wird. Fragen konzentrieren sich auf Menschen und Menschen alleine. Doch hat die Dynamik von Tierpopulationen, deren Ernährungsformen und deren Mobilität keinen Einfluss auf die menschliche Kultur?

Abgesehen von Tieren, die als Faktoren der Lebens- und Überlebensgrundlagen funktionieren, haben Anthropologen ordnungsgemäß Aufmerksamkeit auch auf die Tiere gelenkt, die da sind um den nicht-subsistenziellen menschlichen Zwecken zu dienen, wie zum Beispiel als Objekte des Prestiges, als Opferungsobjekte oder als Totems. Tieren in dieser Funktion wurde religiöse Bedeutsamkeit und symbolische und metaphorische Kraft zugesprochen. Auch haben sich Anthropologen auf die Rollen konzentriert, die Tiere im menschlichen zeremoniellen- und im religiösen Leben spielen.

Das anthropologische Interesse an Totemtieren oder an Tiersymbolen bietet keine Garantie gegen eine anthropozentrische Herangehensweise. Mehr als oft dient solch ein Interesse als Entschuldigung dafür, bei menschlichen Konstrukten anzuhalten, statt den Tieren selbst Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen.

Wenn Anthropologen auf dieses Thema hin angesprochen werden, argumentieren sie, dass man hinsichtlich von Fragen über Tiere per se, sich besser an die Biologie oder Ethologie wenden sollte. Sie darauf hinzuweisen, dass es über die Mensch-Tier Beziehung hinaus auch so etwas wie eine Tier-Mensch Beziehung gibt, und dass dies zu ignorieren zu einer einseitigen Subjekt-Objekt Herangehensweise führt, ist Zeitverschwendung. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt bleibt der Anthropozentrismus in der Anthropologie effektive unhinterfragt.

Den Anthropozentrismus der Anthropologie verstehen

Der Grund hierfür ist die allgemein verbreitete Ansicht, dass Tiere selber einer Wissenschaft, die sich mit dem Sozialen und dem Kulturellen befasst,  nichts zu bieten haben. Anthropologen und Soziologen, so wie alle Gelehrten in den Humanwissenschaften generell, gehen davon aus, dass Sozialität und Kultur nicht außerhalb des menschlichen Bereichs existieren. Man sieht diese Phänomene als ausschließlich menschliche an, und diese Sicht führt die Anthropologen und ihre Kollegen zu dem Zirkelschluss, dass Tiere, da sie nicht Menschen sind, in keiner Weise soziale Wesen oder Kulturwesen sein können.

Sozialwissenschaftler charakterisieren Menschen in den Begriffen der materiellen und sozialen Arrangements die diese Menschen treffen und durch die sie auch geformt sind: als Wesen die sozial konstituieren und sozial konstituiert sind.

Menschen werden gesehen als solche, die ihre eigene Geschichte schaffen. Und während man einst glaubte, dass ihre Naturgeschichte für sie gemacht war, versucht die moderne Menschheit diese Geschichte nun auch zu formen. Im Kontrast dazu, geht man bei Tieren davon aus, dass sie allein eine Naturgeschichte haben, die für sie gemacht ist und die sie an erster Stelle überhaupt hat entstehen lassen.

Im Gegensatz zum Fall des Menschen tendiert man dazu Tiere als Organismen zu betrachten, die primär durch ihren individuell basierenden genetischen Aufbau geleitet sind. Aber es zeigt sich, dass diese Anschauung a priori gesetzt ist – betrachtet vor dem Hintergrund, dass fast kein Student in der menschlichen Gesellschaft und Kultur, die gleiche Fragen über Tiere stellt, die über Menschen gestellt werden.

Man schaut nicht nach dem Sozialen und dem Kulturellen, wo es gewiss nicht gefunden werden kann, außerhalb der menschlichen Sphäre! Jedoch wenn man in seiner Betrachtung voraussetzt, dass Menschen die einzigen Wesen sind, die imstande sind sich eine Gesellschaft, Kultur und Sprache zu schaffen, dann schließt man Tierformen von Gesellschaft, Kultur und Sprache per Definition aus. Im Ganzen stehen Tiere in der Anthropologie nicht nur als Objekte da, denen gegenüber menschliche Subjekte sich verhalten, sondern sie stehen auch als Antithese da für all das, was den Menschen, den Sozialwissenschaften zufolge, menschlich macht. Die Sozialwissenschaften zeigen sich in erster Linie als die Wissenschaften der Diskontinuität zwischen Menschen und Tieren.

Nur wenige Sozialwissenschaftler sind bereit zu fragen, was eine Tier-Mensch Kontinuität in den Begriffen ihres eigenen Gebietes bedeuten könnte. So interessieren sich Soziologen nicht für die Soziologie von Tieren. Auch Hinterfragen die meisten Soziologen nicht die allgemeine Subjekt-Objekt Herangehensweise in der Mensch-Tier Beziehung; und am allerwenigsten werfen sie Fragen darüber auf, in welchen Formen tierliche Subjekte sich auf menschliche Subjekte beziehen können. Die meisten Sozialwissenschaftler neigen dazu unsere Kontinuität zu Tieren als einen rein materiellen Rest einer prähistorischen Vergangenheit anzusehen. Im besten Falle wird unsere „Animalität“ (unser Körper) als die materielle Basis betrachtet, aus der sich unser echtes „Menschsein“ (Verstand, Sozialität, Kultur, Sprache) entwickeln konnte. Unser Menschsein ist auf einer Tierbasis bestimmter Art gebaut, mit einem wesentlichen Zusatz.

Biologischer Essentialismus: Nur für Tiere

Im gleichen Zuge tendieren Sozialwissenschaftler dazu, sich vor jeder Form eines biologischen Essenzialismus in acht zu nehmen. Sie weisen schnellstens hin auf die Gefahren in Erklärungen sozialer Unterschiede bei Menschen über Begriffe biologischer Essenzen, so wie Rasse oder Geschlecht (und das in berechtigter Weise).

Ironischerweise gravitieren viele Wissenschaftler die diese Ansicht vertreten trotzdem noch um die essenzialistischen Positionen die sie selbst angeblich ablehnen, sobald eine andere biologische Kategorie in Sicht kommt, und zwar unsere Speziesbarriere. Plötzlich tauchen unter den Anthropologen und Sozialwissenschaftlern klar umrissene Vorstellungen darüber auf, was menschlich ist und was tierisch ist. Ihre direkte Kritik an denjenigen, die in Begriffen anderer biologischer Essenzen denken, verliert an Glaubhaftigkeit in Anbetracht ihrer eigenen Annahmen über menschliche und tierische Essenzen. Implizit haben Anthropologen Konzeptionen, die sich an eine universelle menschliche Essenz binden: Diese scheint an erster Stelle und am hauptsächlichsten in unserem „Nicht-Tierseins“ und in dem „Nicht-Menschseins“ der Tiere repräsentiert zu sein. Aber wenn das Menschsein mit dem Nicht-Tiersein identisch ist, was macht das Tiersein aus und was sind Tiere?

Wie wir vorher festgestellt haben, zeigt kaum ein Sozialwissenschaftler ein Interesse an Tieren wegen ihrer selbst, geschweige denn ein Interesse daran soziologische und anthropologische Fragen [a.d.Ü.: die Wirkung der Tiere auf die menschlichen Belange] über sie zu stellen. Mit diesem gegebenen Ausschluss von Tieren aus deren respektiven Wissenschaftsbereichen, welche Grundlagen haben diese Sozialwissenschaftler dann dafür solch überzeugte Erklärungen über Tiere abzugeben und vor allen Dingen darüber was Tiere nicht sind? Welche Konzeptionen haben diese Wissenschaftler von Tieren und woher stammen diese Auffassungen?

In einer früheren Veröffentlichung (Noske, Humans and other Animals, 1989) habe ich beschrieben in welchem Ausmaß das sozialwissenschaftliche Bild der Tiere und des Tierseins durch Wissenschaften geprägt wurde, die häufig in bezichtigender Weise als reduktionistisch und objektifizierend bezeichnet werden können. Solch ein Reduktionismus wird aber nur dann beschuldigt, wenn er sich auf menschliche Wesen richtet. Die Naturwissenschaften, insbesondere die biobehavioristischen Wissenschaften, sind verantwortlich für die Schaffung des gegenwärtig bestehenden Bildes vom Tier. Die biobehavioristische wissenschaftliche Charakterisierung von Tieren wird in Begriffen beobachtbarer Verhaltensweisen und Mechanismen dargestellt, von denen ausgegangen wird, dass diese im genetischen Aufbau des Tieres eincodiert sind. Ungleich genetischer Transmission, geht menschlich kulturelle Transmission nicht über die Köpfe der betroffenen Individuen hinaus. Sie beinhaltet die aktive, wenn auch nicht immer bewusste Teilnahme der Transmittoren (der Lehrer) so wie der Rezipienten (der Lernenden).  Es ist nicht so, als wären die Ersteren aktiv und die Zweiteren passiv.

Biologie und Ethologie sind irgendwie zu den Wissenschaften über die Tierheit (animalkind) geworden. Es ist von diesen Wissenschaften woher die Sozialwissenschaftler (die Wissenschaften über die Menschheit) ihr eigenes Bild von Tieren und Tiersein unkritisch und zum größten Teil unbeabsichtigt beziehen. Tiere sind an biologische und genetische Erklärungen gebunden worden.

Dies hat zu einer „Anti-Tier Reaktion“ unter den Gelehrten in den Humanwissenschaften geführt. Sie erklären geradewegs, dass die Evolutionstheorie der Interpretation von Tieren und tierischer Handlungen genüge tut, aber nicht für Menschen. Fast kaum ein Kritiker biologischen Determinismusses wird fragen, ob Tiere wirklich in engen genetischen und biologischen Begriffen erklärt werden können.

Viele Menschen in oder in Verbindung mit den Sozialwissenschaften irren mit ihrer Akzeptanz des biologischen Bildes von Tieren als der tierischen Essenz. Sie versäumen es anzuerkennen, dass das Bild von Tieren ein de-animalisiertes biologisches Konstrukt ist. Die anthropozentrischen Sozialwissenschaften betrachten ihren eigenen Gegenstand, Menschen, als Tier in der Basis, plus eines wesentlichen Zusatzes. Diese Sicht macht Tiere automatisch zu reduzierten Menschen. Das Argument verläuft folgendermaßen: Wenn Biologen und Ethologen reduktionistisch sind, ist das weil Tiere als reduzierte Wesen sie dazu veranlassen so zu denken.

So mag es wohl sein, dass Tiere weiterhin objektifiziert werden, da Biologen es vorziehen reduktionistisch zu bleiben und da Sozialwissenschaftler für ihren Teil es bevorzugen anthropozentrisch zu bleiben.

Die Neubetrachtung der Mensch-Tier Kontinuität

Vermittelt unser gegenwärtiges Bild von Tieren wirklich alles was es mit Tieren auf sich hat? Wenn wir die Zerrbilder abgelehnt haben, die Reduktionisten von Menschen angefertigt haben, warum nehmen wir deren Zerrbilder über Tiere dann als einen gültigen Parameter hin?

Eine Anerkennung der Mensch-Tier Kontinuität heißt nicht notwendigerweise sich in einen biologischen Reduktionismus stürzen zu müssen (Noske, 1989). Ein anderes Hindernis für die Anerkennung einer Mensch-Tier Kontinuität, ist die Angst unter Biologen des Anthropomorphismus bezichtigt zu werden, d.h. der Attribution menschlicher Charakteristiken an Tiere. Für ihren Teil haben Sozialwissenschaftler das eifersüchtig bewacht, was sie als die menschliche Domäne betrachten, und sie neigen somit dazu der Angst der Biologen vor einem Anthropomorphismus zuzustimmen. Was gegenwärtig des Anthropomorphismusses beschuldigt wird sind solche Charakterisierungen auf die Sozialwissenschaftler erpicht sind sie dem Menschen vorzubehalten. In ihrer Kritik eines biologischen Determinismusses richten Sozialwissenschaftler häufig einen bezichtigenden Finger auf jeden, der Tieren Personenschaft zuspricht. Aber nochmals, wie kann man wissen, in welcher Weise sich Tiere von Menschen unterscheiden oder ihnen gleichen, wenn man ablehnt die gleichen Fragen über beide zu stellen?

Es gibt einige mutige Tierwissenschaftler die sagen, dass Tiere menschlicher und weniger objekthaft sind als ihre eigene Wissenschaft uns glauben machen will. Aber sie äußern solche Dinge häufig außerhalb von Berichten oder in fast entschuldigender Weise. Das ist verständlich, da sie sowohl aus der Perspektive der Tierwissenschaften als auch aus der der Humanwissenschaften ein Sakrileg begehen. Die Wissenschaftler die Tiere tatsächlich als teilnehmende Beobachter studiert haben – der gewöhnlichen anthropologischen Herangehensweise an menschliche Gesellschaften – zeigen eine Spannung in ihren Aufzeichnungen zwischen den akzeptierten biologischen Codes und ihren eigenen Erfahrungen mit Tierpersonenschaft.

Jane Goodall, die mit Schimpansen arbeitet, Dian Fossey, die mit Berggorillas lebte und starb, das Douglas-Hamilton Paar und Cynthia Moss, die bei Elefanten lebt und arbeitet, sie alle schreiben über berührende Erfahrungen mit der Personenschaft von Tieren. Ihre Wissenschaft kann mit diesen Formen der Tierrealität nicht umgehen und sie tendiert dazu diese zu verkleinern oder zu ignorieren. Die Tierwissenschaften sind einfach nicht dafür ausgestattet mit denjenigen Charakteristiken bei Tieren umzugehen, die den Sozialwissenschaften zufolge die Menschen menschlich machen.

Konfrontiert mit den Unzulänglichkeiten ihrer eigenen Tradition, hat eine Anzahl unzufriedener Tierforscher, wie Donna Haraway und Donald Griffin, eine tentative anthropologische Herangehensweise an Tiere gefordert. Was ihnen an der Anthropologie gefällt und vor allen Dingen an ihrer Methode der partizipierenden Beobachtung, ist ihre intersubjektive, nonreduktionistische Art Wissen zu erlangen; eine Methode die im starken Kontrast zur Subjekt-Objekt Herangehensweise der Tierwissenschaftler in deren Laboratorien steht.

Anthropologen behandeln den Anderen mit Respekt und hüten sich vor Ethnozentrismus. Selbst wenn der Andere nicht voll begriffen oder verstanden werden kann, wurden Anthropologen dahingehen geschult diesen nichterfassbaren Boden mit Respekt eher als mit Herablassung zu betreten. Aber all dies richtet sich nur an den menschlichen Anderen. Es ist sonderbar, dass Wissenschaftler, die gelernt haben auf die Gefahren von Ethnozentismus zu achten, so leicht in eine andere Form des Zentrismus, des Anthropozentrismus, fallen.

Wir sind traurigerweise bei zwei nach außen hin als unverbunden erscheinenden Bildern steckengeblieben: einem der Menschheit und einem der Tierheit, die durch zwei völlig separate Arten von Wissenschaft vermittelt werden; die eine, die Menschen als soziale Subjekte typifiziert, und die andere, die Tiere als biologische Objekte typifiziert. Für die neu hevorgehende Disziplin der Mensch-Tier Beziehungen, wird dies ein beträchtliches Hindernis sein, das es zu überwinden gilt.

Zur Autorin
Barbara Noske ist Kulturanthropologin und hat ihr Doktorat in Philosophie an der Universität von Amsterdam absolviert. Dr. Noske arbeitet als Research Fellow am Research Institute for Humanities and Social Sciences der University of Sydney, Australien. Eine weitere Diskussion über die Fragen, die in diesem Kommentar aufgeworfen sind, befindet sich in ihrem Buch, Humans and other animals: Beyond the boundaries of anthropology, London: Pluto Press, 1989. Dieses Buch ist nun leider vergriffen. Es existiert aber eine neu aufgelegte und neu überarbeitete Version. Sie heißt Beyond Boundaries: humans and animals und ist herausgekommen bei Black Rose Books, Montreal, 1997.

Grafik
Farangis G. Yegane, Portrait einer Kuh, 200 cm x 175 cm, Acryl auf Leinwand, 1996.

Übersetzung
Gita Yegane Arani, www.simorgh.de – ‚Open Access in der Tier-, Menschen- und Erdbefreiung’. Revised 12/2016.

Zitation
Noske, Barbara (2016). Die Tierfrage in der Anthropologie: Ein Kommentar. TIERAUTONOMIE, 1(3), URL: http://simorgh.de/tierautonomie/JG3_2016_1_noske_2a.pdf.

TIERAUTONOMIE (ISSN 2363-6513)

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4 thoughts on “Barbara Noske: Die Tierfrage in der Anthropologie. Ein Kommentar.

  1. https://web.archive.org/web/20090106161936/http://www.psyeta.org/sa/sa1.2/noske.html (last access 16. December 2016)

    Society & Animals Journal of Human-Animal Studies

    Volume 1, Number 2

    A Commentary

    The Animal Question in Anthropology

    Barbara Noske 1

    The Netherlands

    Anthropologists commonly define their discipline, anthropology, as the study of anthropos (humankind) and think it perfectly natural to pay little or no attention to the nonhuman realm of animalkind. Of course, animals do figure in anthropological studies but they do so mainly as raw material for human acts and human thought. Anthropology has a long tradition of studying the ways in which human groups and cultures deal with and conceive of their natural environment, including other species. Such studies usually confine themselves to humans in their capacities as agents and subjects who act upon and think about animals.

    Consequently, animals tend to be portrayed as passive objects that are dealt with and thought and felt about. Far from being considered agents or subjects in their own right, the animals themselves are virtually overlooked by anthropologists. They and their relations with humans tend to be considered unworthy of anthropological interest. Most anthropologists would think it perfectly natural to pay little or no attention to the way things look, smell, feel, taste or sound to the animals involved. Consequently, questions pertaining to animal welfare in the West or in the Third World rarely figure in anthropological thought.
    Anthropologists treat animals as integral parts of human economic constellations and human-centered ecosystems: They are economic resources, commodities and means of production for human use.

    Animal-based human economies have been studied extensively by anthropologists, who have regarded as their main question whether or not various human practices with animals are economically or ecologically rational (seen from the human point of view). Only in those cases where semi-wild animals still retain some control over their own whereabouts do anthropologists sometimes look at the advantages of existing human-animal arrangements for the animals.
    The discipline of anthropology is blatantly anthropocentric. At best, humans and animals are taken to interact within one communal ecosystem and most anthropologists’ attention is directed toward understanding humans rather than animals. Questions focus on humans and humans alone. Do animal population dynamics, diet and mobility have no influence on human culture?

    Apart from animals that function as subsistence factors, anthropologists have duly called attention to animals that are made to serve non-subsistence human purposes, for instance as objects of prestige or sacrifice or as totems. Animals in this capacity have been vested with religious significance and with symbolic and metaphorical power. In addition, anthropologists have focused on the roles that animals play in human ceremonial and religious life.
    Anthropological interest in animal totems or animal symbols is no guarantee against an anthropocentric approach. More often than not such interest serves as an excuse to stop at human constructs instead of paying attention to the animals themselves.

    When challenged on this issue most anthropologists argue that for questions about animals per se one had better turn to sciences such as biology or ethology. To point out to them that in addition to a human-animal relationship there also exists something like an animal-human relationship, and that totally ignoring the latter will lead to a one-sided subject-object approach is a waste of time. As present the anthropocentrism in anthropology goes virtually unchallenged.

    Understanding Anthropology’s Anthropocentrism

    The reason for this is the commonly held view that animals in themselves have nothing to offer a science which is concerned with the social and the cultural. Anthropologists and sociologists as well as scholars in the humanities generally assume that sociality and culture do not exist outside the human realm. These phenomena are taken to be exclusively human, a view which lands anthropologists and their colleagues in the circular argument that animals, not being human, cannot possibly be social or cultural beings.

    Social scientists characterize humans in terms of the material and social arrangements these humans make and by which they are also shaped: as beings who socially constitute and are constituted.

    Humans are taken to make their own history and while their natural history was once believed to be made for them, modern humanity increasingly tries to shape that history as well. By contrast, animals are believed to have only a natural history, which is made for them and which has caused them to evolve in the first place.

    Unlike human beings, animals tend to be regarded as organisms primarily governed by their individually-based genetic constitutions. But this conviction turns out to be an a priori one, given the circumstance that almost no student of human society and culture asks the same questions about animals as are asked about humans. One does not look for the social and the cultural where surely it cannot be found, outside the human sphere! However, if one preconceives humans to be the sole beings capable of creating society, culture and language, one excludes animal forms of society, culture and language by definition. On the whole, animals figure in anthropology not only as objects for human subjects to act upon but also as antitheses of all that according to the social sciences makes humans human. The social sciences present themselves pre-eminently as the sciences of discontinuity between humans and animals.

    There are few social scientists willing to ask what animal-human continuity might mean in terms of their own field. Thus sociologists do not bother about a sociology of animals. Neither do most social scientists question the common hierarchical subject-object approach to the human-animal relationship; least of all do they pose questions as to the ways in which animal subjects might relate to human subjects. Social scientists tend to treat our continuity with animals as a purely material residue from a pre historical past. At the most our “animalness” (our body) is taken to have formed the material base upon which our real “humanness” (mind, sociality, culture, language) could arise. Our humanness is built on an animal basis of sorts, with a vital addition.

    Biological Essentialism: For Animals only

    At the same time social scientists tend to be on their guard against any form of biological essentialism. They hasten to point out the dangers of explaining social differences between people in terms of biological essences such as race or sex (and rightly so).

    Ironically, many scientists who hold this view still gravitate towards those essentialist positions they claim to detest ­ as soon as another biological category comes into view, our species barrier. Suddenly clear-cut notions as to what is human and what is animal crop up among anthropologists and other social scientists. Their outspoken criticisms of those who think in terms of other biological essences lose credibility in the face of their own assumptions about human and animal essences. Implicitly, anthropologists do have conceptions pertaining to a universal human essence: It seems first and foremost to be embodied in our “non-animalness” and in the animal’s “non-humanness.” But if humanness is identical with non-animalness, then what constitutes animalness and what are animals?
    As we have noted before, hardly any social scientist shows interest in animals for their own sake, let alone cares to ask sociological and anthropological questions about them. Given the exclusion of animals from their respective fields, what grounds do these social scientists have for making such confident statements about animals, especially about what animals are not? What conceptions do these scientists have of animals and where did they get them?

    In an earlier work (Noske, Humans and other Animals , 1989), I described the extent to which the social scientific image of animals and animalness has been shaped by sciences which are often denounced as reductionist and objectifying. Such reductionism is only denounced, however, when directed at human beings. The natural sciences, particularly the biobehavioral sciences, are responsible for creating the current animal image. The biobehavioral scientific characterization of animals is presented in terms of observable traits and mechanisms thought to be encoded in the animal’s genetic make-up. Unlike genetic transmission, human cultural transmission does not pass over the heads of the individuals concerned. It involves the active if not always conscious participation of the transmitters (the teachers) as well as that of the recipients (the learners). It is not as if the former are active and the latter passive.

    Biology and ethology have somehow become the sciences of animalkind. It is from these sciences that social scientists (the sciences of humankind) uncritically and largely unwittingly derive their own image of animals and animalness. Animals have become associated with biological and genetic explanations.
    This has led to an “anti-animal reaction” among scholars in the humanities. They bluntly state that evolutionary theory is all right for the interpretation of animals and animal actions but not for humans. Hardly any critic of biological determinism will stop to think whether animals indeed can be understood in narrowly genetic and biological terms.

    Many people in or allied with the social sciences err in accepting biology’s image of animals as the animal essence. They fail to appreciate that that image of animals is a de-animalized biological construct. The anthropocentric social sciences view their own subject matter, humans, as animal in basis plus a vital addition. This view turns animals automatically into reduced humans. The argument goes as follows: If biologists and ethologists are reductionists this is because animals, as reduced beings, prompt them to think so.
    However, it may well be that animals continue to be objectified because biologists prefer to remain reductionist and because social scientists for their part prefer to remain anthropocentric.

    Reexamining Human-Animal Continuity

    Does the current image of animals really convey all there is to animals? Having rejected the caricatures reductionists have made of humans, why take their animal caricatures at face value?

    To acknowledge human-animal continuity is not necessarily to indulge in biological reductionism (Noske, 1989). Another obstacle to the recognition of human-animal continuity is the fear among biologists of being accused of anthropomorphism, the attribution of exclusively human characteristics to animals. For their part, social scientists have been jealously guarding what they see as the human domain and so tend to applaud the biologists’ fear of anthropomorphism. What is currently denounced as anthropomorphism are those characterizations which social scientists are keen to reserve for humans. In their critique of biological determinism social scientists point an accusing finger at anyone who credits animals with personhood. But again, how can one know how animals differ from or are similar to humans if one declines to ask the same questions about the two?

    There are some courageous animal scientists who do say that animals are more human-like and less object-like than their own science will have us believe. However, they will often say such things off the record or rather apologetically. This is understandable since they are committing a sacrilege both from the perspective of the animal sciences and from that of the human sciences. Those scientists who have actually studied animals as participant observers, the common anthropological approach to human societies, reveal a tension in their writings between the accepted biological codes and their own experiences with animal personhood. Jane Goodall who is working with chimpanzees, Dian Fossey who lived and died among mountain gorillas, the Douglas-Hamilton couple and Cynthia Moss who are living and working among elephants, all write about touching experiences with animal personhood. Their science cannot handle these forms of animal reality and tends to belittle or ignore them. The animal sciences are simply not equipped to deal with those characteristics in animals which according to the social sciences make humans human.

    Faced with the shortcomings of their own tradition a number of dissatisfied animal scientists, such as Donna Haraway and Donald Griffin, have called for a tentative anthropological approach to animals. What attracts them in anthropology and particularly in its method of participant observation is its intersubjective, nonreductionist way of acquiring knowledge, a method contrasting strongly with the subject-object approach applied by animal scientists in their laboratories. Anthropologists treat the Other with respect and are wary of ethnocentrism. Even though the Other cannot be fully known nor understood, anthropologists have been trained to tread upon this unknowable ground with respect rather than with disdain.

    But all this pertains only to the human Other. It is curious that scientists who have learned to beware of the dangers of ethnocentrism so easily lapse into another kind of centrism ­ anthropocentrism. We are sadly stuck with two seemingly unrelated images: one of humankind and one of animalkind conveyed by two totally separate brands of science, the one typifying humans as social subjects, the other typifying animals as biological objects. The newly emerging discipline of human-animal relations will find this a formidable obstacle to overcome.

    Note

    1. Correspondence should be sent to Barbara Noske, Bosboom Toussaintlaan 2 boven, 1401 CC Bussum, The Netherlands. The author has a master’s degree in cultural anthropology and a doctorate in philosophy from the University of Amsterdam. Further discussion of the issues raised in this comment are found in her book, Humans and other animals: Beyond the boundaries of anthropology , London: Pluto Press, 1989.

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